Überlastung – Ein Viertel aller deutschen Lehrer würde gern den Job wechseln
Die Zustände in deutschen Schulen werden angespannter. Laut dem neuen Schulbarometer der Robert-Bosch-Stiftung halten 42 Prozent der Lehrer das Verhalten der Schüler für die größte Herausforderung im Schulalltag. Das ist ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr (35 Prozent). Lehrer an Haupt-, Real- und Gesamtschulen beschweren sich besonders über das Benehmen der Kinder und Jugendlichen (52 Prozent). Ein Drittel der Lehrer sieht die Heterogenität der Schülerschaft als größtes Problem. Und ein Fünftel hält die Eltern der Schüler für die größte Herausforderung.
„Die Auffälligkeiten der Schüler sind ein Containerbegriff, hinter dem sich sehr unterschiedliche Dinge verbergen“, sagt Dirk Richter, Professor für Bildungsforschung an der Universität Potsdam und Co-Autor der Studie. Für die Erhebung befragte das Meinungsforschungsinstitut Forsa 1540 Lehrer an allgemein- und berufsbildenden Schulen. Die Umfrage ist repräsentativ. „Wir haben große Leistungsunterschiede, psychische Auffälligkeiten, verschiedene Verhaltensweisen im Klassenraum“, fasst Richter zusammen. Wichtig sei es nun, Personal an Schulen aufzustocken, auch wenn es mit einer einzigen Maßnahme nicht getan sei.
Die große Heterogenität der Schülerschaft finde sich heute auch zunehmend in Gymnasien wieder, sagt Frank Ahrens, der die Jenaplan-Schule in Jena leitet. „Unser pädagogischer Auftrag ist es, uns dieser Aufgabe zu stellen, egal ob wir nun über multiprofessionelle Teams verfügen oder nicht.“ Ein Schlüssel sei es, die Kinder zu bemerken und ihnen Rückmeldung zu geben – auch mit Bezug auf ihr Lernverhalten. „Wir können keine Kinder untereinander mehr vergleichen, das müssen wir abstellen“, sagt Ahrens. „Wir können Kinder in ihrer Heterogenität nur mit sich selbst vergleichen.“
Die Gesamtschule im thüringischen Jena orientiert sich an einem reformpädagogischen Konzept. Ziel ist es vor allem, dass die Kinder selbstständig lernen, statt „Papageienwissen“ zu pauken. „Wir wollen – nicht mit Noten, sondern mit verbalen Rückmeldungen – vermitteln, was das Kind noch nicht kann. Und was es jetzt tun muss, um einen Schritt weiterzukommen“, sagt Ahrens, der die Robert-Bosch-Stiftung pädagogisch berät. Die Lernwege individuell zu begleiten, sei der einzige Schlüssel, um die Heterogenität der Schülerschaft in den Griff zu bekommen.
Offenbar fällt es einem Großteil der Lehrer allerdings immer schwerer, ihren Beruf auszuüben. 34 Prozent geben in der Befragung an, ihre Arbeitsbelastung sei zu groß, und sie litten unter chronischem Zeitmangel. Auch hier hat es einen deutlichen Anstieg zum Vorjahr gegeben (28 Prozent). Ein Drittel der Lehrer fühlt sich dementsprechend mehrmals pro Woche erschöpft, zehn Prozent sogar täglich. Ein Viertel möchte am liebsten einen anderen Beruf ergreifen.
„Wenn fast ein Drittel der Lehrkräfte regelmäßig erschöpft ist, dann ist das kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem – und ein riesiges Alarmzeichen“, mahnt die Vorsitzende des Philologenverbandes Susanne Lin-Klitzing. Ein verlässliches Unterstützungssystem müsse her mit psychologisch geschulten Fachkräfte, die auch für die Lehrer da sein müssten, sowie der Einrichtung von unabhängige Anlaufstellen in jedem Bundesland für Fälle von Gewalt. „Gute Bildung braucht gesunde Lehrkräfte“, sagt Lin-Klitzing. „Deshalb fordern wir eine Absenkung des Stundendeputats, insbesondere für ältere Lehrkräfte.“
Demokratie-Bildung in Ostdeutschland? Ausbaufähig
Erstmals haben die Forscher für das Schulbarometer in diesem Jahr die Lehrer gefragt, wie sie die Demokratie-Bildung an ihren Schulen einschätzen. Deutliche Unterschiede zeigen sich hier zwischen den ost- und den westdeutschen Bundesländern: Mehr Lehrer im Osten berichten von Desinteresse im Kollegium bei der Vermittlung von demokratischen Werten als im Westen (38 gegenüber 26 Prozent). Auch die Sorge vor Konflikten unter Schülern (29 Prozent gegenüber 17 Prozent) sowie befürchtete Widerstände der Eltern (27 Prozent gegenüber 9 Prozent) werden dort von deutlich mehr Lehrern als Hürden genannt. „Hier braucht es eine Stärkung der Lehrkräfte in Ostdeutschland, sich mehr für Demokratie-Bildung einzusetzen und im Unterricht dafür Zeit einzuräumen“, sagt Studienautor Richter.
„Bei vielen Eltern gibt es eine völlig falsche Vorstellung, was neutrale Schule bedeutet“, sagt Schulleiter Ahrens. „Eine Schule ist nicht neutral, wenn es um Demokratie geht, sondern sie muss eine klare, demokratische Haltung vermitteln und hier auch mit den Eltern in die Diskussion darüber gehen, worin diese besteht.“ Am besten werde im Klassenzimmer vorgelebt, wie Demokratie im Kleinen funktionieren könne und müsse.
„Unsere Schüler sind etwa gewohnt ihre Unterrichtsthemen selbst festzulegen – in Beratung mit den Lehrkräften. Schüler müssen erfahren, dass sie mit ihren eigenen Auffassungen und Aktionen gesehen und gehört werden und ein wichtiges Mitglied der Schulgemeinschaft sind.“ Auch im Lehrplan gebe es dafür viele Spielräume, sagt Ahrens. „Und bei der Rückmeldung zu den Leistungen der Kinder greifen unserer Lehrer auf Kriterien zurück, die gemeinsam mit den Kindern vereinbart wurden. So funktioniert Partizipation und grundlegende Demokratie-Erfahrung.“
Die Ergebnisse des Schulbarometers legen noch eine weitere Baustelle offen: 60 Prozent der Lehrer sehen negative Folgen durch den Einsatz von KI für das kritische Denken und die sozialen Kompetenzen der Schüler.
Ein Drittel der Lehrer selbst nutzt künstliche Intelligenz weder im Unterricht noch für die Vorbereitung; rund zwei Drittel fühlen sich im Umgang damit unsicher. „Viele Lehrer fühlen sich beim Thema KI im Wettlauf mit den Schülern“, sagt Schulleiter Ahrens. „Einige können mit den Schülern Schritt halten oder sind sogar Taktgeber. Aber die meisten Lehrer haben Angst vor KI.“ Um diese Angst aus dem Lehrerzimmer zu holen, sei eine durchkomponierte Fortbildungsoffensive vonnöten.
Die Chefin des Philologenverbandes fordert wiederum einen Förderansatz schon für die Kleinsten. Bereits vor der Einschulung müsse sprachliche und soziale Förderung beginnen. „Wer früh lernt, sicher in der Sprache, inhaltlich korrekt und selbstständig zu kommunizieren, denkt auch später eigenständiger“, sagt Lin-Klitzing. „Denn Schüler sollen selbst denken lernen – und nicht lernen, denken zu lassen.“
Politikredakteurin Freia Peters berichtet für WELT über Familien- und Gesellschaftspolitik sowie Bildung.
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