Reem Al-Hajajreh spricht ruhig und klar, ihr Blick ist ernst und wach. Dabei hat die Gründerin der palästinensischen Frauenrechtsorganisation Women of the Sun kaum geschlafen. In der Nacht kamen israelische Soldaten in das südlich von Bethlehem liegende Flüchtlingscamp Dheisheh, wo sie mit ihren drei Kindern wohnt, und nahmen junge Männer fest – auch ihren 20-jährigen Sohn.

Sie erzählt, dass er morgens wieder freikam und zu ihr sagte: „Mama, du sollst heute trotzdem fahren.“ Und Al-Hajajreh ist eine entschlossene Frau. Nur wenige Stunden nach dem Vorfall findet sie sich in einer ganz anderen Realität wieder: auf einem Uni-Campus im sonnigen Tel Aviv, wo sie sich mit ihren Partnerinnen von Women Wage Peace trifft, einer israelischen Friedensorganisation.

Die Palästinenserin Al-Hajajreh hat Women of the Sun 2021 gegründet, um die Stellung von Frauen in ihrer Gesellschaft zu stärken, ihnen zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit und damit zu politischer Einflussnahme zu verhelfen. Dahinter steckt die Annahme, dass Frieden nur dann möglich ist, wenn Frauen an politischen Prozessen beteiligt sind.

Auf dieser von zahlreichen Studien untermauerten Prämisse beruht auch die Arbeit der israelischen Organisation Women Wage Peace. Beide berufen sich auf die UN-Resolution 1325, welche von der zentralen Rolle von Frauen bei der Verhinderung und Beilegung von Konflikten ausgeht und ihre gleichberechtigte Beteiligung an Friedensprozessen fordert.

Doch eigentlich ist Al-Hajajrehs Motivation viel simpler: Sie wünscht sich, dass ihre Tochter und ihre zwei Söhne in Zukunft gewaltfrei, in Sicherheit und Freiheit leben können. Deshalb veröffentlichten Women of the Sun und Women Wage Peace im Jahr 2022 gemeinsam den „Mother’s Call“, in dem sie den „menschlichen Wunsch nach einer Zukunft des Friedens, der Freiheit, der Gleichberechtigung, der Rechte und der Sicherheit für unsere Kinder und die kommenden Generationen“ formulieren.

Zur Veranstaltung in Tel Aviv sind rund 100 Frauen und auch vereinzelte Männer aus ganz Israel angereist, vom Norden bis hin zur Negev-Wüste. Die meisten tragen Weiß mit türkisfarbenem Schal oder Schmuck, die symbolischen Farben der Bewegung – auch Naama Barak Wolfman, eine der Vorstandsvorsitzenden von Women Wage Peace.

„In der palästinensischen Gesellschaft wird die sogenannte Normalisierung weitgehend abgelehnt“, sagt sie. Jegliche bedeutungsvolle Beziehung mit Israelis gelte dort als Aufgabe des Widerstands. Um sich und ihre Mitarbeiter zu schützen, tritt Reem Al-Hajajreh in Israel nicht öffentlich als Partner auf – das heutige Treffen ist intern.

Die letzte Zusammenkunft war vor dem Krieg

Es ist für alle Beteiligten ein ganz besonderer Tag, denn ein solches Treffen hat es seit dem 7. Oktober 2023 nicht mehr gegeben: zu schwer war es seither, Visa für die palästinensischen Partnerinnen zu bekommen. Reem Al-Hajajreh fliegt bald in die USA – nun hat sie die hart erkämpfte Erlaubnis erhalten, nach Israel zu kommen, um sich bei der amerikanischen Botschaft um sich um ihre Papiere zu kümmern.

Das ist auch eine Gelegenheit für die heutige Zusammenkunft. Nachdem Audiogeräte für die Simultanübersetzung aus dem Arabischen verteilt sind und alle im Saal Platz genommen haben, erzählt Yael Admi, die 2014 Women Wage Peace mitgründete, vom letzten Mal, als sie und Reem Al-Hajajreh sich in Israel trafen.

Das war im Kibbuz Re’im kurz vor dem 7. Oktober 2023, dem Tag, an dem auch dieser Kibbuz brutal angegriffen wurde. Nur drei Tage zuvor hielten die beiden Organisationen zusammen einen ihrer berühmten Märsche mit rund 1500 Beteiligten ab. Seither wurden Yael Admi und Reem Al-Hajajreh für ihr Engagement vom „Time Magazine“ als Women of the Year 2024 geehrt und im selben Jahr auch für den Friedensnobelpreis nominiert.

Mit Tränen in den Augen erinnert die charismatische Friedensaktivistin Admi an die im Massaker von Be’eri ermordete Mitgründerin, Vivian Silver: „Am 7.10. bekam ich eine Nachricht von Reem. Sie schrieb, was ist mit Vivian, wo ist sie?“. Im Saal ist es ganz still, Reem Al-Hajajreh sitzt in der ersten Reihe. Auch sie hat Tränen in den Augen.

„Vivian und Nadia von Women of the Sun, die im Krieg in Gaza getötet wurde, sind nicht mehr bei uns. Eigentlich müssten wir uns einmal wöchentlich nur zum Weinen treffen, denn unsere Arbeit wird von Tag zu Tag schwerer. Aber wir müssen mit voller Kraft kämpfen, denn gerade jetzt tragen wir eine große Verantwortung.“

Sie bittet Reem Al-Hajajreh auf die Bühne, die beiden umarmen sich. Die Emotion ist im ganzen Saal spürbar. Reem Al-Hajajreh erzählt von ihrer Arbeit. Sie glaube fest daran, dass die Veränderung in ihrer Gesellschaft bei den Frauen beginnt: „Wenn Frauen sich ändern, ziehen sie die ganze Familie mit. Zuerst muss die Frau im eigenen Zuhause stark sein.“

Sie selbst ist dafür das beste Beispiel. Sie erzählt, dass ihr Sohn viele Freunde verloren habe, und früher voller Wut gewesen sei. Sie habe eine sehr enge Verbindung mit ihm und habe viel mit ihm geredet. Heute unterstützt er sie uneingeschränkt. Yael Admi nennt ihn einen „Jungen des Friedens.“

Women of the Sun hat ungefähr 3.00 Mitglieder im Westjordanland und 500 im Gaza-Streifen, von denen 38 im Krieg umgekommen sind – darunter auch Nadia Awad, die Leiterin der Gruppe im Süden des Streifens. Women Wage Peace zählt um die 35.000 aktive Mitglieder, darunter neben jüdischen auch arabisch- oder palästinensisch-israelische, drusische und beduinische Frauen.

Im Gegensatz zu anderen Friedensbewegungen versucht Women Wage Peace so viele unterschiedliche Gemeinschaften wie möglich in sich zu vereinen. „Wir müssen unsere Standpunkte an all die verschiedenen Gruppierungen, die bei uns aktiv sind, anpassen“ erklärt Naama Barak Wolfman.

„Die Idee ist, dass man keine extrem linke Frau sein muss, um für Frieden zu sein. Bei uns engagieren sich auch Siedler aus dem Westjordanland; Araber, die Verwandte im Westjordanland und im Gaza-Streifen haben; Drusen, deren Kinder in der israelischen Armee sind. Wer sind die Friedensstifter in Israel? Sie sind vielfältiger, als man vermuten würde.“

Während sich Women of the Sun vor allem um die Ermächtigung palästinensischer Frauen kümmert, liegt der Schwerpunkt bei Women Wage Peace neben politischer Lobbyarbeit vor allem auf der Förderung von Dialog zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Israel.

Selbst mit politisch Rechtsaußen stehenden Siedlerinnen haben sie es vor dem 7. Oktober 2023 geschafft, monatliche Treffen zu organisieren, „obwohl der Dialog sehr schwierig ist“ so Barak Wolfman. „Aber wir glauben daran, dass gesprochen werden muss, um irgendeine Art von Vereinbarung künftig möglich zu machen.“

Beide Organisationen haben gemeinsam, dass sie unparteiisch bleiben möchten, denn ihr Ziel ist es, erst mal alle zum Gespräch an einen Tisch zu bringen. Seit dem 7. Oktober ist diese ohnehin schon schwierige Aufgabe noch schwieriger geworden. Women Wage Peace hat sich zurzeit vor allem dem Engagement um die Befreiung aller Geiseln verschrieben und ist auch auf Anti-Regierungsdemonstrationen sehr präsent. Damit wird sie von einigen nicht mehr akzeptiert.

Die Schrecken des 7. Oktober und der darauffolgende Krieg haben auch die Grundfesten der Friedensbewegung erschüttert. „Wir müssen uns viele Fragen stellen: Sind wir pazifistisch? Oder ist Krieg ein manchmal unvermeidbares Mittel zum Zweck?

Es gab beispielsweise eine große Diskussion darüber, inwieweit unsere Sicherheit davon abhängt, die Tunnel der Hamas zu zerstören. Bis heute führen wir sehr intensive Diskussionen. Man weiß nie, was Leute denken – die Meinungen sind auch innerhalb der unterschiedlichen Gemeinschaften sehr verschieden“, so Barak Wolfman.

Ein erster Schritt in Richtung Frieden

Reem Al-Hajajreh riskiert sogar ihre persönliche Sicherheit: „Wir sind wenige, nur 4000 Mitglieder. Wer bei uns herrscht, sind die Gewalttätigen. Ich werde als Verräterin dargestellt, weil ich für die Normalisierung mit Israel stehe. Ich bin immer in Gefahr, aber ich habe keine Angst. Unsere Bewegung wächst, und ich bin überzeugt: Es gibt keinen anderen Weg.“

Sie erzählt auch von dem Mut ihrer Koordinatorin in Gaza, die es schaffe, trotz der Gefahren Events zu organisieren, und dass die Frauen dort Interesse zeigen und partizipieren. Im Anschluss kommen viele Fragen aus dem Publikum – von Frauen, die Reem Al-Hajajreh teilweise persönlich kennen, Frauen, die unterschiedliche Projekte aufgebaut oder mitorganisiert haben, alles ehrenamtlich.

Eine davon lautet: Wie können wir als Einzelpersonen zu Frieden beitragen? „Frieden wird nicht an einem Tag gebaut“, antwortet Reem Al-Hajajreh, „wenn jeder jetzt anfängt und auf seine unmittelbare Umgebung Einfluss nimmt – Familie, Mann, Kinder – dann wird es vielleicht in zwanzig Jahren Frieden geben“.

Naama Barak Wolfman sagt es so: „Nach alledem, was passiert ist, benutzen wir nicht mehr das Wort Frieden, auch wenn es Teils unseres Namens ist. Frieden, das ist vielleicht etwas für die kommenden Generationen. Wir sagen Vereinbarung. Wir brauchen politische Vereinbarungen mit unseren Nachbarn. Wir haben friedliche Grenzen mit Jordanien, mit Ägypten – das war früher unser schlimmster Feind. Eine Vereinbarung, das würde uns schon reichen.“

Für die Aktivistinnen zählt nicht die perfekte Lösung, sondern der erste Schritt: dass Menschen einander zuhören, Unterschiede aushalten, und gemeinsam nach politischen Wegen suchen, die ein Leben in Sicherheit und Würde für beide Seiten ermöglichen.

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