Nur ein paar Meter von seinen Zuhörern getrennt spricht Miguel Uribe in das Mikrofon. Kein Zaun, kein Sicherheitsabstand, keine auf den ersten Blick sichtbaren Leibwächter. Der potenzielle Präsidentschaftskandidat der konservativen Partei Centro Democratico (CD) fühlte sich offenbar sicher, wollte ganz nah dran sein an den Menschen. Im Viertel Modelia unweit des internationalen Flughafens El Dorado in der kolumbianischen Hauptstadt Bogota sind an diesem Samstag ein paar Hundert Menschen zusammengekommen.

Der 39-Jährige gilt als das junge Gesicht der kolumbianischen Konservativen. Dann fallen Schüsse, Uribe bricht zusammen. Der mutmaßliche Täter, ein Teenager, flieht, wird aber auf der Flucht von einer Kugel getroffen und wenig später festgenommen. Uribe, der in einer Klinik noch immer in Lebensgefahr schwebt, ist nicht mit dem immer noch enorm populären rechten Ex-Präsidenten Alavro Uribe (2002-2010) verwandt.

Das Attentat ist der vorläufige Höhepunkt einer besorgniserregenden Entwicklung. Seit der linkspopulistische Präsident Gustavo Petro vor knapp drei Jahren sein auch aus Brüssel und der damaligen Ampelregierung in Berlin gezielt unterstütztes Projekt „Paz total“ (Kompletter Frieden) gestartet hat, entwickelt sich das südamerikanische Land innenpolitisch zu einem Pulverfass und kehrt international zu seiner alten Rolle als Antriebsmotor für internationale Drogenkartelle zurück.

Die Schüsse auf Uribe erinnern an schlimmste Zeiten, als in Kolumbien der legendäre Drogenbaron Pablo Escobar in den 80er- und 90er-Jahren mit seinem Medellin-Kartell gezielt Politiker, Polizisten und Richter ermorden ließ.

Miguel Uribes Mutter, die Journalistin Diana Turbay, wurde von Escobars Handlangern 1990 entführt und kam Wochen später bei einer Befreiungsaktion unter bis heute nicht geklärten Umständen ums Leben. Miguel Uribe war damals vier Jahre alt. „Es ist schwer ohne Mama aufzuwachsen. Aber dieses Schicksal teile ich mit so vielen Kolumbianern, deren Mutter oder Vater von der Gewalt aus dem Leben gerissen wurde“, sagte Uribe in einem Interview.

Der Fall seiner Mutter wurde im Buch „Nachricht von einer Entführung“ von Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez beschrieben. Unzählige Filme wie zuletzt die Netflix-Serie „Narcos“ beschäftigten sich mit dem Familiendrama, das sich tief in das Gedächtnis der Kolumbianer eingebrannt hat. Und nun um ein weiteres trauriges Kapitel reicher ist. Dessen Ausgang ist angesichts der Schwere der Verletzungen Uribes ungewiss.

Die Hintergründe des Attentats sind noch völlig unklar. Wie immer in Kolumbien sind alle Szenarien denkbar. Die US-Regierung machte indirekt die Petro-Regierung mitverantwortlich: „Die Vereinigten Staaten verurteilen den Mordversuch an Senator Miguel Uribe auf das Schärfste. Dies ist eine direkte Bedrohung für die Demokratie und das Ergebnis der gewalttätigen linken Rhetorik, die aus den höchsten Ebenen der kolumbianischen Regierung kommt“, schrieb Außenminister Marco Rubio bei X.

Angesichts der Fortschritte, die Kolumbien in den vergangenen Jahrzehnten bei der Festigung von Sicherheit und Demokratie erzielt habe, könne sich das Land eine Rückkehr zu den dunklen Tagen politischer Gewalt nicht leisten. „Präsident Petro muss seine hetzerische Rhetorik zurückfahren und kolumbianische Amtsträger schützen“, so Rubio weiter.

Petro hatte zuletzt Kritiker als Feinde des Volkes bezeichnet und dazu aufgerufen, seine parlamentarisch gescheiterten Projekte mit der Mobilisierung der Straße durchzusetzen.

Petro warnte davor, das Attentat politisch zu instrumentalisieren – um später genau das zu tun, als er über Drohungen gegen Kabinettsmitglieder und deren Familienangehörige berichtete und versuchte, sich und die Regierung als Opfer darzustellen. Seit Wochen spricht er über Attentatspläne gegen ihn, ohne Beweise vorzulegen.

Hinweise auf „mächtige Kräfte“

Tatsächlich wurde mit Uribe nun einer der wichtigsten Oppositionspolitiker niedergeschossen. Sogleich begann von Regierungsseite der Kampf um die Deutungshoheit. Verteidigungsminister Pedro Sanchez erklärte: „Wer auch immer den Anschlag verübt hat, tut alles, um anonym zu bleiben.“

Der wegen Korruptionsvorwürfen hochumstrittene Innenminister Armando Benedetti sprach davon, dass „mächtige Kräfte“ hinter dem Anschlag stecken könnten, die in der Lage seien, den politischen Kurs des Landes zu verändern. Auch er legte keine Beweise für seine Behauptung vor.

Das Attentat trifft Kolumbien in einer Phase starker politischer Polarisierung. Uribe hatte zuletzt das Vorhaben Petros kritisiert, per Referendum über eine Arbeitsrechtsreform entscheiden zu lassen, die zuvor im Parlament gescheitert war. Auch in der Volksbefragung wurde sie abgelehnt, aber Petro will sie nun per Dekret durchsetzen.

Die Opposition sieht in der Umgehung der demokratisch gewählten Institutionen die Vorstufe zu einem Staatsstreich. Und wittert einen Testlauf, mit dem Petro später auf diesem Wege auch eine in der Verfassung verankerte Amtszeitbegrenzung umgehen könnte.

Außenpolitisch positioniert Petro das einzige Nato-Partnerland in Südamerika wie keine andere Nation des Kontinents eng an der Seite der radikal-islamistischen Hamas und kündigte an, dass Kolumbien Teil der großen chinesischen Handelsstrategie „Neue Seidenstraße“ sein werde.

Sein vor allem von jungen Wählern 2022 unterstütztes und in Berlin und Brüssel mit viel Vorschusslorbeeren und Steuermitteln bedachtes Projekt „Paz Total“ droht zu scheitern. Der Linkspolitiker, einst selbst Guerillero der Gruppe M19, wollte mit allen bewaffneten Gruppen im Land auf dem Verhandlungswege Frieden schließen.

Doch linksextreme Guerillagruppen und rechtsextreme Paramilitärs nutzen die durch ausgehandelte Waffenstillstände mit dem Militär entstandenen unverhofften Freiräume zum Ausbau ihrer Machtposition in den Provinzen. Petro entgleitet die Situation zusehends: Zehntausende Menschen werden aus jenen Unruheprovinzen vertrieben, dafür steigt die Koka-Produktion.

Allein nach dem ersten Amtsjahr Petros wuchs laut einem Bericht des UN-Büros für Drogenkriminalität (UNODC) der Koka-Anbau um zehn Prozent, die Kokainproduktion auf 2664 Tonnen. Drogenmengen, die nun in die USA und auf die Märkte nach Europa drängen und die Dealer von München und Miami versorgen.

Petros ehemaliger Außenminister Alvaro Leyva warf seinem einstigen Vorgesetzten vor wenigen Wochen zudem vor, drogenabhängig zu sein. In einem Brief, aus dem die kolumbianischen Medien zitieren, heißt es, Leyva habe „peinliche Momente“ des Präsidenten erlebt.

So sei Petro in Frankreich 2023 plötzlich zwei Tage nicht auffindbar gewesen: „In Paris konnte ich mich davon überzeugen, dass Sie ein Drogenproblem haben“, schrieb Leyva, der fast zwei Jahre lang das Außenministerium leitete, ehe er von Petro wegen Korruptionsvorwürfen abgesetzt wurde. Bekannt ist, dass Petro in den vergangenen Jahren mehrmals angetrunken in der Öffentlichkeit auftauchte. Seine Amtszeit läuft bis August 2026.

Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.

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