Berlin gilt als Hotspot antisemitischer Straftaten in Deutschland. Eine Antwort des Berliner Senats auf eine parlamentarische Anfrage der AfD im Abgeordnetenhaus legt nun offen, wie stark sich Hass auf Juden seit dem 7. Oktober 2023, seit dem Angriff der Hamas auf Israel, in der Hauptstadt entladen hat. WELT liegt die Antwort auf die Anfrage vor.

Demnach wurden 2023 noch 901 antisemitische Delikte erfasst. Im vergangenen Jahr waren es dagegen 1823. Vor allem das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen ist der Statistik zufolge massiv angestiegen: von 88 im Jahr 2023 auf 587 im Jahr 2o24. Im vergangenen Jahr stufte das Bundesinnenministerium unter Nancy Faeser (SPD) das rote Dreieck als verbotenes Kennzeichen der islamistischen Terrororganisation Hamas ein. Die Fälle von Sachbeschädigung stiegen von 144 auf 379, Fälle von Volksverhetzung von 359 auf 525. Gewaltdelikte nahmen dagegen von 72 auf 67 leicht ab. Der überwiegende Teil der Fälle wurde dabei im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt registriert. 2023 waren es 533 Fälle, im Jahr darauf 1451.

Für 2025 könnte sich ein Absinken der Zahlen abzeichnen. So wurden bis zum 5. Mai 307 Fälle mit antisemitischer Motivation registriert, 245 davon im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt. Allerdings, so schreibt es der Berliner Senat in seiner Antwort, sind für das laufende Jahr noch nicht alle bekannt gewordenen Fälle in der Statistik erfasst worden.

Die meisten der Tatverdächtigen mit antisemitischen Motiven sind deutsche Staatsangehörige. Waren es vor zwei Jahren 256, waren es 2024 schon 743. Wie viele der deutschen Beschuldigten eine weitere Staatsangehörigkeit haben, geht aus der Statistik nicht hervor. Nach Deutschland stammten die meisten Tatverdächtigen 2024 aus Syrien (42), den USA (27), dem Iran (26), Italien (23) und dem Libanon (16). Den größten Anteil macht nach den Deutschen jedoch die Gruppe der Staatenlosen mit 66 Tatverdächtigen aus.

Die Mehrheit der antisemitischen Vorfälle in Berlin wird der Kategorie „ausländische Ideologie“ zugeordnet. Im Jahr 2024 entfielen laut Senat 1036 antisemitisch motivierte Straftaten auf eine ausländische, 338 auf eine religiöse Ideologie. Dem gegenüber stehen 302 Fälle mit rechtsextremem Hintergrund. Aus der linksextremistischen Szene wurden vergleichsweise wenig Fälle registriert: 2024 waren es 32. Der Berliner Senat warnt dennoch, dass sich infolge des Hamas-Angriffs auf Israel eine antiisraelische Szene „aus dem auslandsbezogenen Extremismus, dem Islamismus und dem Linksextremismus“ gebildet habe.

Ein Anstieg ist in allen Kategorien zu beobachten. Aus der linksextremistischen Szene lag die Zahl der Fälle 2023 noch bei zehn, in der rechtsextremen Szene bei 288, in der Kategorie „ausländische Ideologie“ bei 437 und in der Kategorie „religiöse Ideologie“ bei 93 Fällen.

Auffallend an der Statistik ist, dass ein Großteil der antisemitischen Vorfälle keinen konkreten Tatverdächtigen zugeordnet werden kann. So blieben von den 1823 Fällen im vergangenen Jahr 1034 ungeklärt. Bei rund 43 Prozent der Fälle konnten Tatverdächtige ausfindig gemacht werden. 2023 waren es knapp unter 40 Prozent gewesen.

Zu Anklagen und rechtskräftigen Verurteilungen kommt es der Statistik zufolge kaum: 61 Mal wurde 2024 Anklage erhoben. In 180 Fällen mit antisemitischem Kontext, 141 mehr als 2023, kam es im vergangenen Jahr zu einer Strafe. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass diese Zahlen unterschiedliche Zeiträume und Verfahrensstadien abbilden. So können Verurteilungen auch aus Anklagen früherer Jahre stammen, während die Anklageerhebungen nur neue Verfahren eines bestimmten Jahres erfassen.

Als Reaktion auf die zunehmende Entwicklung antisemitischer Vorfälle hat die Polizei ihre Sicherheitsvorkehrungen ausgeweitet. So schreibt der Berliner Senat, dass wegen der „besonderen Lage“ die Anzahl der Schutzmaßnahmen für jüdische Einrichtungen mehr als verdoppelt worden sei. Auch Gefährdungsbewertungen und Fortbildungen seien für Einsatzkräfte verstärkt worden. Bei nichtdeutschen Tatverdächtigen würden antisemitisch motivierte Straftaten im Fall einer Abgabe des Ermittlungsverfahrens an die Staatsanwaltschaft automatisiert an das Landesamt für Einwanderung gemeldet.

„Unsere Aufgabe, jüdisches Leben in Berlin zu schützen“

Der AfD-Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus Martin Trefzer, der die Anfrage an den Berliner Senat gestellt hatte, fordert ein Umdenken in der Berliner Politik. WELT sagte er: „Der Senat muss mit seiner Gegenstrategie ansetzen, wenn er Antisemitismus und Israelhass zurückdrängen will. Insbesondere die unheilige Allianz aus islamistischen und linksextremistischen Judenhassern muss endlich adäquat adressiert werden.“ Hier lasse sich der Senat von falsch verstandenen Rücksichten leiten. „Die Einführung eines Tages gegen Islamfeindlichkeit geht leider in die vollkommen falsche Richtung.“ CDU und SPD hatten kürzlich einen Antrag ins Berliner Abgeordnetenhaus eingebracht, wonach künftig der 15. März als „Internationaler Tag der Islamfeindlichkeit“ begangen werden soll.

Der Berliner CDU-Politiker Timur Husein, Sprecher für Antisemitismus-Bekämpfung, erklärt: „Die Zahlen zeigen, dass wir noch lange mit Antisemiten in Berlin zu tun haben werden. Sie zeigen auch, dass es eine gefährliche und immer stärker werdende Zusammenarbeit zwischen Linksextremisten und Islamisten gibt.“ Die richtige Antwort sei eine repressivere Politik. Husein verweist auf die Änderung des Hochschulgesetzes, die kürzlich beschlossen wurde. So ist es nun möglich, Studenten nach schweren Straftaten zu exmatrikulieren. Außerdem werde derzeit eine Änderung des Berliner Versammlungsfreiheitsgesetzes geprüft. „Es lässt aktuell zu viele Möglichkeiten des Missbrauches.“ Die CDU stellt derzeit in Berlin den Regierenden Bürgermeister.

Alex Freier-Winterwerb von der in Berlin mitregierenden SPD sagt: „An der Lebenswirklichkeit von Jüdinnen und Juden zeigt sich der Zustand unserer Gesellschaft – und der ist alarmierend.“ Die massive Zunahme antisemitischer Straftaten sei kein Randphänomen, sondern ein Angriff auf die Demokratie. „Wer jetzt nicht handelt, macht sich mitschuldig. Jüdisches Leben braucht Schutz, Antisemitismus null Toleranz – und endlich Taten statt Worte. Es ist Zeit für einen neuen Aufstand der Anständigen und mehr Anstand bei den Zuständigen.“

Die Berliner Grünen-Politikerin Gollaleh Ahmadi, Sprecherin für Sicherheitspolitik, nannte die neuen Zahlen „zutiefst besorgniserregend“. „Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, und es ist die politische Verantwortung des Senats, dass keine finanziellen Mittel liegen bleiben.“ Ahmadi bezieht sich auf einen Bericht der B.Z. aus der vergangenen Woche, wonach die Senatsverwaltung für Kultur deutlich weniger Geld für Projekte gegen Antisemitismus ausgibt als ursprünglich geplant.

Die Fraktion der Linken teilt über ihren innenpolitischen Sprecher Niklas Schrader mit: „Die Zahlen sind kein Grund zur Entwarnung. Die Bedrohung durch antisemitische Taten und Übergriffe ist nach wie vor auf einem hohen Niveau. Das zeigen auch Zahlen nichtstaatlicher Recherchestellen. Insofern wird es weiter unsere Aufgabe sein, jüdisches Leben in Berlin zu schützen und Betroffenen zur Seite zu stehen.“

Gleichzeitig betont Schrader, dass der Anstieg von Delikten in Bezug auf die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen zum Teil auch auf Verschärfungen im Strafrecht zurückzuführen sei. Tatsächlich ist in Berlin etwa die Parole „From the river to the sea“ mittlerweile in den meisten Fällen strafbar.

Am Mittwoch wird die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) ihre bundesweiten Zahlen zu antisemitischen Vorfällen im Jahr 2024 vorstellen. Die Berichte von Rias unterscheiden sich in ihrer Datenerhebung darin, dass sie sich vor allem auf Berichte von Betroffenen, Zeugen und NGOs stützen.

Die Antwort des Berliner Senats bezieht sich auf Zahlen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes in Fällen politisch motivierter Kriminalität. Wichtig: Es handelt sich um eine Eingangsstatistik. Fälle werden also gezählt, sobald sie bekannt werden, und nicht erst nach Abschluss der Ermittlungen.

Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.

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