Wenn Kriminologen ihre Erkenntnisse zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche präsentieren, handelt es sich meist nur um einen kleinen Ausschnitt. Um das sogenannte Hellfeld, Taten also, die angezeigt und strafrechtlich verfolgt werden. Wie viele junge Menschen tatsächlich im Laufe ihres Lebens sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, im direkten Kontakt oder im Internet, bleibt im Dunkeln – bisher vorgelegte Schätzungen weisen eine extreme Bandbreite auf.

Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) hat jetzt gemeinsam mit führenden Forschungseinrichtungen den Versuch unternommen, diese verborgenen Winkel auszuleuchten. In Zusammenarbeit mit Infratest Dimap wurde für die „Nationale Studie zu Prävalenz, situativem Kontext und Folgen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland“ zwischen Januar und Oktober 2024 eine groß angelegte repräsentative Befragung vorgenommen. Über ausgewählte Einwohnermeldeämter wurden 10.000 repräsentativ ausgewählte Menschen zwischen 18 und 59 Jahren angeschrieben, die Rücklaufquote betrug 30,2 Prozent.

Diese 3016 befragten Personen wurden nach ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend befragt, nach der von den Forschern vorgegebenen Definition „jegliche Handlungen mit und ohne Körperkontakt, zum Beispiel sexuelle Belästigung, sexuelle Nötigung bis hin zu versuchtem und vollzogenem Eindringen in den Körper“.

Die Auswertung zeigt, dass sexuelle Gewalterfahrungen tatsächlich noch weiter verbreitet sind als befürchtet. „Die Ergebnisse weisen auf ein erhebliches Dunkelfeld hin“, so die Forscher. Insgesamt gaben 12,7 Prozent der Befragten an, einmal oder gar mehrfach von sexualisierter Gewalt betroffen gewesen zu sein – 20,6 Prozent der Frauen und 4,8 Prozent der Männer. Besonders hoch ist die Betroffenenrate bei der jüngeren Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen. Hier gaben 27,4 Prozent der Frauen und fünf Prozent der Männer an, von sexualisierter Gewalt betroffen gewesen zu sein. Etwa die Hälfte in dieser Gruppe erlebte einmal, die andere Hälfte mehrmals sexualisierte Gewalt.

Einen besonderen Schwerpunkt legten die Forscher auf die bislang noch wenig untersuchte Erfassung sexualisierter Gewalterfahrungen, die über das Internet und die sozialen Medien angebahnt oder in diesem Kontext begangen werden. Dazu zählen etwa ungewollte sexuelle Anbahnungsgespräche, Aufforderungen zu ungewollten sexuellen Handlungen, das Versenden von Nacktfotos oder auch die ungewollte Konfrontation mit pornografischen Inhalten.

Hier zeigte sich eine noch sehr viel höhere Betroffenheit: Knapp ein Drittel der Befragten haben bereits sexualisierte Gewalterfahrungen im Internet gemacht – 34,9 Prozent der Frauen und 28,2 Prozent der Männer. Über solche Erlebnisse berichteten auch mehr als 27 Prozent der Befragten, die in ihrer Selbsteinschätzung angegeben hatten, ansonsten keine Übergriffe erlebt zu haben. „Soziale Medien und Internet haben eine Vielzahl neuer Möglichkeiten geschaffen, sexuelle Missbrauchshandlungen zu begehen“, heißt es dazu in der Studie. „Prävalenz und Dynamik dieser Problematik sind bisher nicht gut untersucht, was es schwierig macht, geeignete Präventionsstrategien zu entwickeln.“

Durchschnittlich waren die Betroffenen sexualisierter Gewalt zum Zeitpunkt der ersten Tat 11,2 Jahre alt. Bei den von Mehrfachtaten betroffenen Kindern und Jugendlichen dauerte der Missbrauch im Schnitt 3,4 Jahre, bis zu einem durchschnittlichen Alter von 15,4 Jahren. Die meisten Taten spielten sich in den Jahren 1980 bis 2019 ab, mit einem Schwerpunkt in den 2000er-Jahren.

Die Täter waren meist Männer, nur 4,5 Prozent der Befragten gaben eine Täterin an. Am häufigsten geschah der Missbrauch in der Familie oder Verwandtschaft (betroffene Frauen: 35,3 Prozent, Männer: 18,8 Prozent), gefolgt vom Freundeskreis (Frauen: 24,6 Prozent, Männer: 26,7 Prozent). Männer erlebten häufiger sexualisierte Gewalt in Sport- und Freizeiteinrichtungen, im kirchlichen Kontext und im Rahmen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, Frauen in Familie und Verwandtschaft sowie im beruflichen Umfeld. Die meisten Betroffenen haben nach eigenen Angaben hauptsächlich sogenannte „Hands-on-Handlungen“ erlebt, jede vierte betroffene Person berichtete aber auch von Penetrationen.

Und dieser Missbrauch hat Folgen. Bei Betroffenen stellten die Forscher deutlich häufiger Hinweise auf frühe traumatische Erfahrungen und ein geringeres subjektives Wohlbefinden fest. Mit Blick auf den erreichten Schulabschluss gab es zwar keine systematischen Unterschiede zwischen Betroffenen und Nichtbetroffenen. Wohl aber hinsichtlich des beruflichen Bildungsabschlusses und der Finanzierung des Lebensunterhalts. Von sexualisierter Gewalt betroffene Personen waren seltener in der Lage, ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten.

37,4 Prozent der Befragten hatten vor der Erhebung noch nie mit jemandem über die erlittenen Erfahrungen gesprochen, eine Strafanzeige hatten nur 7,4 Prozent der Betroffenen gestellt. „Es ist bemerkenswert, dass trotz Aufklärungs- und Präventionskampagnen als Gründe hierfür häufig Schamgefühle berichtet wurden und die Annahme, dass einem ohnehin nicht geglaubt werde“, heißt es in der Studie. Besorgniserregend sei auch das geringe Wissen über Hilfsangebote.

Die Aufklärungsbemühungen müssten daher weiter forciert werden, „da selbst bei vorhandenem Wissen um mögliche Hilfsangebote nicht wenige Betroffene durch Schamgefühle oder die Sorge, dass ihnen nicht geglaubt wird, entsprechende Hilfen gar nicht in Anspruch nehmen“.

Sabine Menkens berichtet für WELT über gesellschafts-, bildungs- und familienpolitische Themen.

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