Er hatte sich schon zum Sieger erklärt. „Wir haben gewonnen“, ruft Rafal Trzaskowski seinen Anhängern zu. Seine Frau Malgorzata, die neben ihm auf der Bühne steht, spricht er als „Pierwsza Dama“ an. Sie ist, zumindest in den Augen ihres Mannes, schon an diesem 1. Juni die „First Lady“ Polens.

Um 21 Uhr, direkt nach der Schließung der Wahllokale, wurden die ersten Ergebnisse der Nachwahlbefragungen bekannt gegeben – und Trzaskowski, der proeuropäische Kandidat der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO), stand da noch bei 50,3 Prozent der Stimmen. Es war ein hauchdünner Vorsprung vor Karol Nawrocki, der zu diesem Zeitpunkt noch 49,7 Prozent der Stimmen erhalten hat. Der parteilose Nawrocki wurde von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ins Rennen geschickt.

Trzaskowskis Jubel indes erweist sich als verfrüht. Denn in Polen werden an Wahlabenden keine Hochrechnungen gezeigt, sondern Ergebnisse sogenannter „exit polls“ verschiedener Meinungsforschungsinstitute. Am populärsten ist das Meinungsforschungsinstitut Ipsos, auf dessen Zahlen sich die Stäbe der Kandidaten beziehen und die auch vom staatlichen Fernsehsender TVP veröffentlicht werden. Üblicherweise wird derjenige, der in diesen Nachwahlbefragungen vorn liegt, einen oder zwei Tage später von der Staatlichen Wahlkommission mit einem entsprechenden Endergebnis belohnt. Zumal in einer Stichwahl um das Amt des Staatspräsidenten.

Allerdings trennten Trzaskowski und Nawrocki lediglich 0,6 Prozent voneinander und die Fehlertoleranz bei Nachwahlbefragungen liegt bei bis zu zwei Prozent. Der Wahlsieger könnte einen Vorsprung von wenigen zehntausend Stimmen haben; entsprechend der Ergebnisse der Nachwahlbefragung würden aktuell etwa 100.000 Stimmen die beiden Kandidaten voneinander trennen. Nach der Schließung der Wahllokale war in Polen also noch lange offen, wer tatsächlich neuer Präsident wird.

Und so verwunderte es auch wenig, dass die Analysten kurze Zeit später gegen Mitternacht dann plötzlich Nawrocki knapp vorn sahen. Der rechtskonservative Kandidat sollte nun 50,7 Prozent der Stimmen bekommen haben, auf Trzaskowski entfielen nur noch 49,3 Prozent.

Schließlich erklärten am Montagmorgen große polnische Medien wie die Zeitung „Rzeczpospolita“ und das Nachrichtenportal „Onet.pl“ Nawrocki zum knappen Sieger und stützten sich dabei auf die Auszählung von mehr als 99 Prozent der Stimmen durch die Wahlleitung. Demnach kam Nawrocki auf knapp 51 Prozent, sein liberaler Gegenkandidat Rafal Trzaskowski auf etwas mehr als 49 Prozent.

Dass noch nichts entschieden war, dürfte am Sonntagabend auch schon Nawrocki geahnt haben. Der hatte sich – wie Trzaskowski – am Abend zum Wahlsieger erklärt. „Ja, wir gewinnen, heute Nacht werden wir gewinnen“, rief er seinen Anhängern zu. Die antworteten jedoch nicht nur ihm enthusiastisch, sondern sie riefen auch den Namen „Jaroslaw“. Gemeint war damit Jaroslaw Kaczynski, der mächtige Vorsitzender der PiS. Er hielt sich im Hintergrund, stand nicht mal mit Nawrocki auf der Bühne. In der Partei jedoch ist jedem klar, dass Nawrocki sein Kandidat ist und dass er über einen Präsidenten Nawrocki die Geschicke Polens mitbestimmen würde.

Kaczynski ist die graue Eminenz der polnischen Politik und der wohl einflussreichste polnische Politiker seit dem Ende des Staatssozialismus. Mit dem 42-jährigen Nawrocki wollte er ein ähnliches Kunststück vollbringen, wie 2015 mit Andrzej Duda. Der heute 53-jährige Duda startete seinerzeit als Außenseiter und wurde schließlich für zehn Jahre Staatspräsident. Nach zwei Amtszeiten konnte er der polnischen Verfassung nach nicht noch mal kandidieren.

Duda war einer breiten Öffentlichkeit unbekannt, ebenso wie der Historiker und ehemalige Boxer Nawrocki noch vor einigen Wochen. Als „frischer“ Kandidat sollte er einen Wahlkampf gegen „die Eliten“ führen und gleichzeitig kontrollierbar für den Vorsitzenden bleiben, da ihm eine Basis sowie Netzwerke in der Partei fehlen, wie es auch bei Duda der Fall war.

Duda hat denn auch – ganz im Sinne Kaczynskis – seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Donald Tusk im Dezember 2023 die Regierungsarbeit nach Kräften sabotiert. Mit seinem Veto konnte er etliche Gesetzesinitiativen verhindern; der Präsident kann überdies Gesetze zur Überprüfung an das Verfassungsgericht delegieren, das nach dem von 2015 bis 2023 andauernden Justizumbau der PiS immer noch mit Loyalisten, gar ehemaligen Angehörigen der Partei besetzt ist. Duda hat damit Tusks Reformpolitik im Innern verhindert, die von Tusks Anhängern eingeforderte Rücknahme der sogenannten Justizreform ist ausgeblieben, auch eine Liberalisierung des strengen Abtreibungsrechts.

Sollte Nawrocki tatsächlich Präsident werden, rechnen Beobachter mit einer Fortsetzung dieser Blockadepolitik. Einige, wie Piotr Buras, der Chef des Warschauer Büros der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR), gehen davon aus, dass eine Niederlage Trzaskowskis sogar zu einem Zerbrechen der Regierungskoalition und vorgezogenen Neuwahlen führen könnte. Die PiS, die immer noch die stärkste Einzelpartei in Polen ist, könnte wieder die Regierung übernehmen – unter Umständen in einer Koalition mit der rechtsextremen Konfederacja.

Polens Europapolitik wäre abermals geprägt von deutschlandfeindlichen Tönen und einer Konfrontation mit der EU-Kommission und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wegen der Nichteinhaltung rechtsstaatlicher Standards. Europas Wirtschaftswachstumslokomotive, das größte Land im Osten der EU, das wegen der höchsten Verteidigungsausgaben im Bündnis in der Nato gerne als Musterschüler bezeichnet wird, würde drohen, als Partner für Deutschland und Frankreich auszufallen. Das ist es, was für Europa in dieser Wahlnacht auf dem Spiel steht.

So offen das Rennen lange war, zeichnet sich inzwischen eine Tendenz für Nawrocki ab. Einer auf ersten Teilergebnissen beruhenden Prognose des wichtigen Meinungsforschungsinstituts Ipsos zufolge erhielt Nawrocki 51 Prozent der Stimmen, auf seinen liberalen Rivalen, den Pro-Europäer Rafal Trzaskowski, entfielen demnach 49 Prozent. Die Wahlbeteiligung war mit 71,7 Prozent verhältnismäßig hoch. Schon um 17 Uhr hatten 54,91 Prozent der wahlberechtigten Polen ihre Stimme abgegeben. Während des ersten Wahlgangs zwei Wochen zuvor waren es mit 50,59 Prozent mehr als vier Prozent weniger gewesen.

Traditionell verstehen es die Nationalkonservativen besser, ihre Anhänger an die Urnen zu bringen, als die PO; auch zeigen PiS-Wähler eine äußerst geringe Bereitschaft, ihr Kreuz für einen anderen Kandidaten oder eine andere Partei zu machen. Das überraschend gute Abschneiden Nawrockis während des ersten Wahlgangs – er erhielt 29,5 Prozent der Stimmen – lässt sich unter anderem damit erklären – gleichwohl galt das Potenzial der Stammwählerschaft der PiS zu diesem Zeitpunkt weitgehend als ausgeschöpft.

Eine höhere Wahlbeteiligung müsste demnach Trzaskowski begünstigen, so die Annahme vieler polnischer Demoskopen. Dazu war am Nachmittag eine steigende Wahlbeteiligung in des westlichen Woiwodschaften, den größten Verwaltungsbezirken, gegenüber denen im Osten des Landes zu erkennen. Ähnlich verhielt es sich bei den Städten gegenüber dem ländlichen Raum. Auch das sprach für einen Stimmenzuwachs für Trzaskowski und deutete in der Nacht noch auf Verschiebungen zu seinen Gunsten deuten. Doch die Demoskopen könnten falsch gelegen haben.

Trzaskowskis selbstüberzeugter, überschwänglicher und mit Blick auf die Ergebnisse der Nachwahlbefragungen beinahe irritierende Jubel dürfte ferner noch einen anderen Grund haben und der ist strategischer Natur: Dem Kandidaten von Premierminister Tusk dürfte es darum gehen, früh keinen Zweifel an einem Sieg aufkommen zu lassen. Dafür braucht er die richtigen Bilder; dass seine Mitstreiter sich den Wahlabend über in den Armen liegen und so einen Sieg feiern, der (noch?) keiner ist, deutet genau darauf hin. Denn selbst sollte Trzaskowski mit zwei oder sogar drei Prozent Vorsprung gewinnen, ist denkbar, dass Nawrocki und die PiS das Ergebnis anfechten.

Anhänger der beiden großen Lager leben medial in verschiedenen Welten

Die Anhänger der beiden großen politischen Lager in Polen können sich auf kaum etwas einigen, auch medial leben sie in scheinbar unterschiedlichen Welten. Nichts steht besser dafür, als die von polnischen Medien aufgedeckten Skandale um Nawrocki: Der PiS-Kandidat soll einen Rentner um dessen Wohnung betrogen haben, Kontakte zu Gangstern unterhalten, an Hooligan-Gruppenschlägereien teilgenommen und in einem Luxushotel in dem Kurort Sopot an der Ostsee Gästen Prostituierte „zugeführt“ haben.

All das ist nicht zur PiS-Wählerschaft durchgedrungen. Im Gegenteil wurde es als Verschwörung oder Angriff auf einen „anständigen“ Kandidaten abgewehrt. Experten sehen eine ähnlich scharfe Spaltung der Wählerschaft in kaum einem anderen europäischen Land.

Verglichen wird die polnische Situation hingegen oft mit den USA. Dort drangen die vielen Skandale Donald Trumps ebenfalls kaum zu seiner Wählerschaft durch. Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl anzufechten, hat demnach jede Menge Potenzial, zu gesellschaftlichen Verwerfungen zu führen. Nawrocki scheint sich mithin genau dafür in Stellung zu bringen. Am Wahlabend schon sprach er von einem „Monopol der Macht“ oder einer „Macht des Bösen“ von Donald Tusk, die er nicht zulassen wolle. Gerede von einer „gefälschten“ oder „gestohlenen“ Wahl hat umso mehr Sprengkraft, da die PiS immer noch Einfluss auf die Gerichte hat, die im Zweifel eine Wahl annullieren können.

Doch selbst wenn es nicht dazu kommt, die größte Oppositionspartei eine Trzaskowski-Präsidentschaft aber nicht anerkennt, dürfte das gesellschaftliche Klima nachhaltig Schaden nehmen. Polen stehen spannungsgeladene Stunden bevor, bis zur Verkündung des amtlichen Wahlergebnisses voraussichtlich am Montag – und unter Umständen turbulente Wochen und Monate.

Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.

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