Das Ende der „Matratzen-Dollars“ – Jetzt stellt Milei seinem Land die ultimative Vertrauensfrage
Ein Nachmittag auf der Avenida La Plata in Buenos Aires. Das grelle Gelb macht schon von Weitem auf die Filiale von Western Union aufmerksam. Noch vor zwei Jahren hatten sich Menschentrauben vor den Standorten des Unternehmens für internationale Geldüberweisungen gebildet. Die Wartezeit betrug nicht selten zwei bis drei Stunden.
Heute halten sich vergleichsweise wenige Kunden in der Filiale an der Avenida La Plata auf, um sich aus dem Ausland kommende Dollar- oder Euro-Überweisungen auszahlen zu lassen. Denn seitdem Javier Milei Präsident in Argentinien ist, hat sich die schwache Landeswährung, der Peso, „der so viel wert ist wie Scheiße“ (Milei im Wahlkampf 2023), deutlich stabilisiert. Die Konsequenz: Der Vorteil, aus dem Ausland geschickte Geldscheine zu Hause aufzubewahren, ist praktisch verschwunden.
Luis Fernando (28), der mit ein paar anderen Kunden in der Filiale wartet, bringt im Gespräch mit WELT die Lage der argentinischen Wirtschaft auf den Punkt: „Stabil – aber das Leben ist sehr teuer.“ Der Arbeiter hat Familie in den USA und freut sich über eine monatliche Unterstützung aus Chicago. Auch wenn sie bei Weitem nicht mehr so viel wert ist wie früher.
In diesen Tagen hat Mileis Regierung ein Programm angekündigt, das die Einbindung der sogenannten Dólares del colchón, der „Matratzen-Dollars“, in den regulären Geldkreislauf ankurbeln soll. Schätzungen zufolge könnten in den argentinischen Haushalten rund 200 Milliarden US-Dollar als stille Reserve vor sich hin schlummern – versteckt „unter den Matratzen“, wie es hier heißt.
Vielen diente das Schwarzgeld als eiserne Reserve für schlechte Zeiten. Die US-Währung war während der Hyperinflation unter den überwiegend links-peronistischen Vorgängerregierungen eine Art Lebensversicherung für die Argentinier. Wer damals Dollarnoten besaß, war gegen die Preissteigerungen einigermaßen immun, weil die US-Währung auf dem Schwarzmarkt enorm begehrt war und geradezu traumhafte Wechselkurse ermöglichte.
Um den Konsum im Land anzukurbeln, hätte der Präsident nun gern Zugriff auf diese Reserven. Seinen Landsleuten stellt er mit seinem Vorstoß indirekt die ultimative Vertrauensfrage. Holen sie die Dollars tatsächlich hervor, rechnen sie damit, dass Mileis Reformkurs langfristig funktioniert, und sich Argentinien endgültig von den Krisenjahren der Hyperinflation verabschiedet.
Die Argentinier hätten dann ganz persönlich Anteil an der Wiederbelebung ihrer Volkswirtschaft – für Milei das optimale Szenario. Binnenkonsum und Wirtschaftswachstum würden angekurbelt, und die Dollars könnten die argentinischen Währungsreserven auffüllen.
Bleiben die Scheine aber unter der Matratze, wäre das ein Signal, dass die Argentinier seinem Kurs nicht trauen. Für Milei wäre das fatal. Doch der Präsident geht wie so oft „all in“. Bislang ist diese Strategie meist gut gegangen.
Hohe Preise und stagnierender Konsum
Der „Plan zur historischen Wiedergutmachung der Ersparnisse der Argentinier“ sieht vor, steuerliche Kontrollen und Regulierungen abzubauen, sodass die Argentinier ihre gehorteten Dollars ganz offiziell nutzen können. Das Finanzamt schaut quasi weg, wenn die Menschen ihre Schwarzgeldkassen öffnen.
Die Maßnahme fällt in eine Zeit, in der das Konsumverhalten der Argentinier stagniert oder sogar rückläufig ist. Zwar sank die Inflation – nach radikalem Bürokratieabbau, der Schließung von Ministerien und der Entlassung von zehntausenden Staatsbediensteten – von anfangs monatlich 25 Prozent auf zuletzt 2,8 Prozent.
Das Land erwirtschaftet erstmals seit Jahren Haushaltsüberschüsse und verzeichnet wieder ein Wirtschaftswachstum. Mileis radikaler Reformkurs hat allerdings eine Schattenseite für die Menschen: Die Güter des täglichen Bedarfs haben sich stark verteuert, auch infolge des starken Subventionsabbaus.
Wie sehr die Argentinier die hohen Preise beschäftigten, zeigt ein Blick ins Fernsehen. Moderatorin Mirtha Legrand ist eine TV-Legende und im Alter von 98 Jahren noch auf den Bildschirmen präsent. Vor wenigen Tagen sprach sie mit dem populären argentinischen Netflix-Star Ricardo Darin über die aktuelle Situation im Land. „Ich weiß nicht, ein Dutzend Empanadas kosten 48.000 Pesos. 48.000 Pesos, das sind umgerechnet etwa 43 Dollar“, beklagte sich Ricardo Darin über die hohen Preise der beliebten Teigtaschen. „Die Preise sind schrecklich, das Geld reicht nicht“, antwortete Legrand.
Ein Dialog, der so vermutlich in vielen argentinischen Haushalten geführt wird. Einerseits spüren die Leute, dass Mileis Reformkurs die ökonomischen Kennziffern erkennbar verbessert, andererseits leiden sie unter den hohen Preisen.
Nun sollen also die „Matratzen-Dollars“ helfen, die argentinische Volkswirtschaft über die nächste Etappe der Wiederbelebung zu tragen. „Die Verringerung der Risiken soll dazu beitragen, dass ein Teil der Ersparnisse der Argentinier, der sich außerhalb des Systems befindet, schrittweise wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückfließt“, sagt Eugenio Mari, Chefökonom des wirtschaftsliberalen Thinktanks Fundación Libertad y Progreso im Gespräch mit WELT. Dadurch komme die Wirtschaft wieder in Gang.
Das wird allerdings nur passieren, wenn die Argentinier Mileis Reformkurs nicht nur an der Wahlurne, sondern auch mit dem Griff unter die Matratze unterstützen. Die „Vertrauensfrage“ ist gestellt, die Antwort gibt es in ein paar Monaten.
Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.
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