„Ich bin nicht mehr bei meiner Partei wegen dieser Sprach-Jakobiner“
Schon die Gästeliste lässt auf viel Diskussionsstoff schließen: Am Mittwochabend trafen sich beim ZDF-Talk von Markus Lanz der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos), Renate Künast (Grüne), WELT-Herausgeber Ulf Poschardt und die Neurowissenschaftlerin Maren Urner, um über Meinungsfreiheit zu sprechen. Ausgangslage war eine Allensbach-Umfrage, nach der nur noch 40 Prozent der Menschen in Deutschland das Gefühl haben, alles frei äußern zu können. 1990 waren es noch 78 Prozent der Befragten.
Im Grunde ging es also um Gefühle – gefühlte Wahrheiten, gefühlte Beleidigungen –, um die große Frage, wer von einer gefühlten Einschränkung der Meinungsfreiheit profitiert, und natürlich um die US-Regierung. Einigkeit herrschte bei der Sorge, dass die gefühlte Repression eine Gefahr für die Gesellschaft darstelle – Uneinigkeit darüber, ob die Hauptschuld nun bei den Rechten oder bei den Linken liegt.
Die Wahl des US-Präsidenten sei eine Reaktion auf „linken Verfehlungen“, alles besser zu wissen und die Moral zu pachten, sagte der Ex-Grünenpolitiker Palmer. „Ich glaube, dass die Linksliberalen in Namen der Toleranz eine Intoleranz entwickelt haben, die das System insgesamt, die Demokratie, in der Tat so weit nach rechts schiebt, dass wir uns noch wundern werden, wenn der erste Ministerpräsident der AfD als staatliche Institution – und das werden die tun – gegen die Meinungsfreiheit vorgeht“, warnte Palmer und erntete Zustimmung von Poschardt.
Der langjährige WELT-Chefredakteur sprach angesichts der Umfrage von einem „Desaster“ und kritisierte allzu häufige Klagen von Politikern gegen Beleidigungen und Drohungen im Internet. „Dass Politiker so dünnhäutig geworden sind, finde ich problematisch“, sagte Poschardt und lobte in dem Zusammenhang ausnahmsweise Alt-Kanzlerin Angela Merkel, die in ihrer Amtszeit keine einzige solche Klage angestrebt hatte. Er plädierte gegen eine Anzeigekultur: „Vielleicht öffnen wir den Raum des Sagbaren, ohne indifferent zu sein gegen Gewaltandrohungen.“
„Wenn wir das Thema nicht ernst nehmen, dann fliegt unsere Gesellschaft auseinander“, warnte Poschardt, der während der Sendung mehrfach mit der Wissenschaftlerin Urner aneinander geriet. Die Professorin für nachhaltige Transformation an der Fachhochschule Münster wurde schon angekündigt mit den Worten, dass der „Diskurs über Meinungsfreiheit in Wahrheit nur eine Ablenkung (ist), damit Leute wie Ulf Poschardt ihre Produkte besser verkaufen können“.
„Was wir hier abfragen, ist ein Gefühl“, erläuterte Urner. Die Gefühle kämen „aus unserer Umgebung“ – und diese sei massiv beeinflusst von den Informationen, die Menschen bezögen. Sie halte die Diskussion für eine „Ablenkung“, „um nicht darüber zu reden, (....) wer ein Interesse hat, eine Demokratie zu zerstören.“ Mehrfach warnte sie: Wer aufgeregt sei, treffe historisch bewiesen keine guten Entscheidungen.
„Wo durften Sie in diesem Land Ihre Meinung nicht sagen und was ist Ihnen dann passiert?“, fragte sie in die Runde. Ziemlich oft, antworteten Palmer und Poschardt. „Ich sage ein Wort, das im Duden steht, und dann heißt es sofort: Der Mann ist untragbar, er muss weg“, sagte Palmer. „Ich bin nicht mehr bei meiner Partei wegen dieser Sprach-Jakobiner“, fuhr er fort. Er finde die These von einem Ablenkungsmanöver „abwegig“, er werde am Bahnhof angesprochen und für seinen Mut gelobt. Urner kritisierte darauf die anekdotische Beweisführung, zudem habe er selbst doch zuvor gesagt, kritische Entgegnungen müsse man „aushalten können“.
Künast macht „digitales Zeitalter“ verantwortlich
Die frühere Verbraucherministerin Künast sagte zum Umfrageergebnis: „Diese Zahl sagt aus, dass wir in einer Drucksituation stecken“, und machte das „digitale Zeitalter“ verantwortlich. Sie bekomme den Eindruck, dass die Debatte bewusst eingesetzt werde, um politisch bestimme Meinungen und Politiker oder Institutionen „unmöglich zu machen“. Hass, Aggression und böses Gerede seien inzwischen ein „Geschäftsmodell“ für mehr Klicks und mehr geschaltete Werbung. Die Grünen-Politikerin hatte sich in der Vergangenheit wegen vielfacher Beleidigungen im Internet durch alle Instanzen geklagt – und am Ende Recht bekommen. Wer einen Politiker „gehirnamputiert“ oder eine „Pädophilen-Trulla“ nennt, darf seitdem nicht mehr glauben, rechtlich von der Meinungsfreiheit gedeckt zu sein.
Zu der Kritik, auf die Poschardts und Palmers Meinungsbeiträge stoßen, sagte sie an Palmer gewandt: „Wer eine dezidierte Meinung hat, wird auch eine dezidierte Gegenmeinung erfahren.“ Man solle nicht so tun, als wenn eine scharfe Gegenreaktion die Demokratie gefährde. „Sie ist gefährdet durch jene, die ‚Lügenpresse‘ sagten und die drei Gewalten infrage stellten“, so die Juristin.
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