Als mein Bruder starb, stand an seinem Platz auf dem Esstisch ein kleiner Engel
Für mich bricht die schlimmste Zeit des Jahres an. Es beginnt, wenn ich im Treppenhaus an der ersten Etage vorbeilaufe. Das ältere Ehepaar hat, wie jedes Jahr, einen übermäßig geschmückten Weihnachtsbaum und einen Teller voller Plätzchen auf einen kleinen Tisch vor ihre Wohnungstür gestellt. Es ist wieder so weit, denke ich.
Die meisten Menschen sehnen sich nach Weihnachten, ich kann nicht erwarten, dass es endlich vorbei ist.
Niemand hat einem beigebracht, wie man ohne Eltern und Geschwister Weihnachten feiert. Als sie noch gelebt haben, hatten wir, wie die meisten Familien, unsere eigene Tradition. Punkt 18 Uhr an Heiligabend saßen mein Bruder und ich ordentlich gekämmt und mit (nach Ansicht der Eltern) halbwegs anständigen Klamotten artig am geschmückten Tisch im Esszimmer und warteten auf den obligatorischen Kartoffelsalat mit Würstchen. Jahrzehntelang.
In der Reihenfolge des Alters (Vater, Mutter, Bruder, dann ich) schaufelte sich jeder seine Portion auf den Teller. Meine Mutter und ich räumten anschließend unter Beobachtung der Männer auf, bevor wir gemeinsam ins Wohnzimmer zum geschmückten Baum und – natürlich – den Geschenken gingen. Mein Bruder verabschiedete sich irgendwann an Heiligabend, um, wie er betonte, in die Kirche zu gehen. Meine Mutter war davon regelmäßig schwer beeindruckt.
Erst viel später habe ich erfahren, dass seine Kirche eine gut besuchte Kneipe war. Der 1. Weihnachtstag bestand aus einer gut gebratenen Gans, dem Spaziergang nach dem Essen und das, was eine Familie so tut, wenn alle mal Zeit füreinander haben: miteinander reden. Das war in unserer kleinen Familie, seitdem ich denken kann, immer so.
Als mein Bruder starb, stand an seinem Platz auf dem Esstisch ein kleiner Engel. Es war das erste Weihnachten, das so traurig war, dass meine Eltern und ich die Veranstaltung einfach nur schweigend durchzogen. Mein Vater erledigte an diesem Heiligabend das erste Mal in seinem Leben den Abwasch. Wir bemühten uns, unsere Traditionen und Rituale aufrecht zu halten, was uns mehr schlecht als recht gelang.
Wir wollten neue Traditionen erfinden
Als im Jahr darauf mein Vater starb, waren meine Mutter und ich allein. Sie kam zu mir und wir versuchten, fortan alles ganz anders zu machen. Wir hatten begriffen, dass es nie wieder ein Weihnachtsfest geben würde, wie wir es kannten, also wollten wir neue Traditionen erfinden. Doch es ging nicht.
Mein Kartoffelsalat schmeckte (natürlich) nicht so, wie wir es gewohnt waren. Der gebratene Vogel war zäh und eigentlich wollten wir nur, dass die Weihnachtslieder verstummten und der Trubel vorbeizog. Wir haben damals sehr viel geschwiegen.
Im Sommer des darauffolgenden Jahres starb meine Mutter. Ich war viel zu sehr mit den Formalitäten und dem Abwickeln ihres Lebens beschäftigt, als dass ich Gedanken an die Weihnachtstage verschwenden konnte. Als im Herbst die ersten Schokoladenweihnachtsmänner in den Geschäften standen, machten Freunde mir ein Angebot. „Wenn du nicht weißt, was du Weihnachten machst, kannst du gern zu uns kommen“, sagten sie und schoben hinterher: „Vielleicht am 2. Weihnachtstag, weil Heiligabend sind wir bei unseren Eltern.“
Manche jammern, dass sie zu ihren Eltern oder Schwiegereltern müssten und Weihnachten bei ihnen regelmäßig im Familienstreit endete. Ich dachte immer nur, was ich darum gäbe, wenn sich mein Vater beim Weihnachtsessen noch einmal über irgendetwas aufregen und meine Mutter mit ihrer klugen, ruhigen Art alles wieder in Ordnung bringen würde.
An meinem ersten Weihnachten ohne Familie bin ich weggefahren. Weit weg. Dort traf ich auf Menschen, die es mir gleich getan hatten. Das tat mir gut, ich fühlte mich nicht so allein mit meinem Kummer – und ich konnte darüber offen reden. Wenn alle um einen herum gemütlich beisammensitzen oder Geschenke auspacken, will man nämlich genau eines nicht: über seine tote Familie sprechen.
Im vergangenen Jahr haben die meisten meiner Freunde das Thema Weihnachten ausgelassen, nicht mir erzählt, wie sie die Feiertage verbringen oder mich danach gefragt. Ein paar haben an Heiligabend Nachrichten geschickt: „Wir wünschen dir ein schönes Weihnachtsfest.“ Eine Freundin schrieb den Nachsatz: „Trotz allem.“
Grundsätzlich verstehe ich das: Niemand möchte sich zu einer Zeit, in der alle bei ihren Kindern, Eltern oder Geschwistern sind, damit beschäftigen, dass sie diese geliebten Menschen irgendwann im Leben nicht mehr um sich haben werden.
Ich denke, es gibt Weihnachten auch, damit für wenige Stunden im Jahr alles stillsteht und man sich darauf besinnt, was Familie bedeutet. Ein Fest, zu dem man einfach nach Hause kommt und sich Geschichten und Anekdoten von früher erzählt. Wenn es dieses Zuhause nicht mehr gibt, ist das traurig. Natürlich können auch Freunde feste Bestandteile im Leben werden, aber eben niemals Familie.
Niemand nimmt mir die Erinnerung an die Weihnachtsabende, an denen der Baum umfiel oder die ganze Familie eine halbe Stunde lang das verschwundene Glöckchen zur Bescherung suchte, um es auf dem Balkon im Schnee zu finden (Ich weiß bis heute nicht, wie es da hingekommen ist). Niemand kann meinen Bruder oder meine Eltern ersetzen. Die Menschen, die von Geburt an dabei waren, mich verstanden und zu dem gemacht haben, der ich bin.
Wie ich in dieses Weihnachten verbringe, weiß ich nicht. Ich bin dankbar und demütig, dass ich gesund bin. Die Traurigkeit geht vorbei, spätestens wenn die Nachbarn den Baum aus dem Treppenhaus geräumt haben.
* Die Autorin hat keine Kinder, lebt allein und möchte anonym bleiben. Ihr wahrer Name ist der Redaktion bekannt.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke