„Der Hass auf den Kapitalismus sitzt tief in der akademischen Kultur“
Der US-amerikanisch-kanadische Experimentalpsychologe Steven Pinker sieht systematische Fehlwahrnehmungen bei der Bewertung von Klimawandel und anderen Menschheitsproblemen. Pinker ist Professor für Psychologie an der Harvard-Universität in den USA.
WELT: Herr Pinker, Sie gelten als Vertreter des rationalen Optimismus. Was genau bedeutet rationaler Optimismus?
Steven Pinker: Es bedeutet nicht, das Glas durch eine rosarote Brille als halb voll zu betrachten, sondern vielmehr die enormen Fortschritte zur Kenntnis zu nehmen, die in der Geschichte zu verzeichnen sind - Verdoppelung der Lebenserwartung, Verbreitung der Demokratie, Rückgang der großen Kriege, Rückgang der extremen Armut - und die Suche nach Lösungen für die heutigen Probleme zu fördern.
WELT: Sie sind ein Kognitionsforscher. Was sind Ihrer Meinung nach die problematischen Folgen der Klimaangst, die vor allem unter jungen Menschen grassiert?
Pinker: Zu den wahrscheinlichen Ursachen gehört die Negativ-Verzerrung: die Konzentration auf die schlimmstmöglichen Folgen, statt auf die Bandbreite der wahrscheinlichen Folgen und die Konzentration auf die Schäden, die entstehen, wenn wir das Problem nicht abmildern, statt auf die Möglichkeiten, wie wir es abmildern können. Und eine moralische Voreingenommenheit, die Reue, Schuldzuweisungen und Askese als die einzigen Lösungen ansieht, anstatt politische und technologische Innovationen, welche die eigennützigen Entscheidungen auch zu umweltfreundlichen Entscheidungen machen würden. Zu den schädlichen Folgen gehören tragische Lebensentscheidungen wie der Verzicht auf Kinder in der irrigen Annahme, dass der Klimawandel noch zu ihren Lebzeiten zum Aussterben der Menschheit führen wird, fehlgeleitete Energie bei der Verteufelung von Übeltätern statt bei der Lösung eines Problems, das uns alle betrifft und Fatalismus und damit Passivität aufgrund der Überzeugung, dass das Problem unlösbar ist.
WELT: Kritiker könnten enden, dass die Menschen erst einmal Angst empfinden müssen, um überhaupt handeln zu können.
Pinker: Gerade so viel Angst, dass man zum Handeln getrieben wird, ist gut, aber nicht so viel, dass sie zu Fatalismus oder Passivität führt.
WELT: Wenn die Menschen all die Weltuntergangsprophezeiungen der Vergangenheit sehen, die von der Realität widerlegt wurden – von der „Bevölkerungsbombe“ bis zu den „Grenzen des Wachstums“ –, könnten sie auch anfangen, am Klimawandel zu zweifeln, oder?
Pinker: Aber was ist die Alternative: die Förderung eines falschen Narratives über diese Prophezeiungen, um den Glauben an den Klimawandel zu stärken? Das kann nur nach hinten losgehen. Ich glaube nicht, dass die meisten Menschen so dumm sind: Jede Bedrohung muss nach dem Grad der Evidenz und dem möglichen Schaden beurteilt werden.
WELT: Mittlerweile sind Wasser und Luft in westlichen Staaten wieder sauber, die Ressourcen gehen nicht aus, viele Tierarten kehren zurück, der Wald ist nicht gestorben. Wir verdanken einen Großteil des sozioökonomischen und ökologischen Fortschritts der vergangenen Jahrzehnte auch dem Erfolg der Umweltbewegung. Warum feiert die ökologische Linke nicht, dass sie den Kapitalismus gezähmt hat?
Pinker: Der Hass auf den Kapitalismus sitzt tief in der intellektuellen, akademischen und aktivistischen Kultur und hat mehrere Ursachen: ein Versagen, die Macht der verteilten, systemischen, von unten nach oben gerichteten Organisation zu schätzen, im Gegensatz zur Organisation, die von Eliten aufgezwungen wird, die verbale Formeln umsetzen; der Wettbewerb zwischen den Eliten, wobei Akademiker und Kulturkommentatoren implizit mit den Eliten der Wirtschaft und der Technologie konkurrieren und Stammesdogmen, bei denen einige Überzeugungen zu Identitätsabzeichen für soziale Koalitionen werden.
Außerdem hat sich die intellektuelle und politische Landschaft zunehmend polarisiert, wobei rechte Ideologen übersehen, dass alle kapitalistischen Länder über einen beträchtlichen Wohlfahrts- und Regulierungsstaat verfügen und mit ziemlicher Sicherheit deshalb so erfolgreich sind. Insbesondere haben viele staatliche Regulierungen und Anreize in Kombination mit einem marktwirtschaftlichen Entdeckungswettbewerb um effizientere und umweltschonendere Verfahren zu messbaren Verbesserungen des Zustands der Umwelt geführt, zum Beispiel bei der Luft- und Wasserverschmutzung und der Schließung des Ozonlochs.
Stattdessen reden sowohl die Rechte als auch die Linke so, als ob die bisherigen Umweltvorschriften nutzlos gewesen wären. Die Rechte stellt sich dann die libertäre Utopie einer wohlhabenden, marktwirtschaftlichen Demokratie ohne Umverteilung oder Sicherheits- und Umweltvorschriften vor, die es nie gegeben hat und wahrscheinlich auch nie geben wird.
Die Linke fürchtet dieses Ergebnis als ihren dystopischen Alptraum und lehnt daher jede Deregulierung oder den Kapitalismus als solchen ab. Ich stimme mit der Prämisse der Frage überein, dass beide Pole anerkennen sollten, dass die regulierte kapitalistische Demokratie das erfolgreichste Gesellschaftssystem ist, das je existiert hat und wir weder auf den Kapitalismus noch auf die Regulierung verzichten können.
Das Interview ist ein Ausschnitt aus dem gerade erscheinenden Band ‚Das andere Klimabuch‘ (Verlag Königshausen und Neumann), in dem 25 Experten überraschende Fakten über die globale Erwärmung und ihrer Folgen beschreiben.
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