„Scheiße, ich werde vielleicht sterben“
Ein Tag in den Herbstferien 2018. Die ersten acht Wochen als Referendarin an der Schule liegen hinter Anna-Theresia Rau. Sie ist 27 Jahre alt, ihre Tochter feiert in wenigen Tagen ihren ersten Geburtstag. Tagsüber fährt sie vom Vogtland nach Dresden, um das Auto abzuholen, das sie zum Berufsstart als Lehrerin gekauft hatte. Müde von der Fahrt sitzt sie abends auf der Couch und bemerkt den kleinen Knubbel, der sich neben der rechten Achselhöhle am Übergang zu ihrer Brust wölbt.
Sofort schrillen die Alarmglocken. Einen Monat zuvor ist ein enges Familienmitglied an Krebs verstorben, blutsverwandt waren sie nicht. Drei Tage später geht Rau zu einer befreundeten Frauenärztin. Nach dem Ultraschall wird sie für den nächsten Tag zur Mammografie bestellt. Wenige Tage später hat der Knubbel einen Namen: ein HER2-Tumor, 13 Millimeter groß, triple positiv. Triple-positiv bedeutet nichts anderes als besonders aggressiv.
500.000 Menschen erkranken laut Robert-Koch-Institut in Deutschland jedes Jahr an Krebs. Darunter 16.500 junge Erwachsene zwischen 18 und 39. Wer so jung, so schwer krank wird, steht vor besonderen Herausforderungen. Der Lebensabschnitt ist eine prägende und ereignisreiche Zeit. Die Erkrankten stecken mitten in der Ausbildung oder in der Familiengründung. Die Krankheit überschattet ein Leben, noch bevor es sich entfalten kann.
Als Rau ihre Diagnose erfährt, bricht sie komplett zusammen. Zwei Stunden spricht sie mit der Ärztin, wird an eine Psychoonkologin überwiesen. Die versucht, Perspektiven aufzuzeigen. In den darauffolgenden Tagen liest Rau alles, was sie im Internet findet. Sie kann es nicht fassen. Immer wieder geht sie es durch: keinerlei Risikofaktoren, kein ungesunder Lebensstil, Nichtraucherin, keine genetische Veranlagung. Trotzdem wächst in ihrer Brust ein Tumor.
„Ich dachte immer wieder, wie soll es jemals wieder gut werden?“, erzählt die heute 34-Jährige. Ihre größte Angst zu dieser Zeit? Dass sich ihr Kind, wenn sie stirbt, nicht mehr an sie erinnert.
Kurz nach der Diagnose steht für viele Betroffene der pure Schock: ein Gefühl, als würde man den Boden unter den Füßen verlieren, begleitet von Angst und Unsicherheit. Die psychische Belastung ist in den ersten sechs Monaten besonders hoch, danach nimmt sie meist wieder ab. „Es gibt zwei Peaks, der eine direkt bei der Diagnose und der andere am Ende der medizinischen Therapie. Denn dann muss eine neue Normalität gefunden werden“, sagt Anja Mehnert-Theuerkauf, Medizinpsychologin am Universitätsklinikum Leipzig.
In der dritten Novemberwoche fängt Rau mit der Chemotherapie an. Aufgrund ihres jungen Alters wird sie medikamentös hoch eingestellt. Alle zwei Wochen bekommt sie eine Infusion. „Red Devil“ nennen die Krebspatienten die Flüssigkeit, die so rot wie Campari ist. Bald steigt sie auf ein anderes Medikament um, das sie wöchentlich bekommt. Nach den Terminen geht sie nach Hause und kümmert sich um ihre Tochter. Der Alltag pausiert nicht, weil sie krank ist. Manchmal, während ihre Tochter auf dem Spielplatz spielt, übergibt sie sich im Gebüsch.
Ihr Umfeld ist bestürzt über die Diagnose. Ihr Mann unterstützt sie. Ihre Eltern meinen es nur gut, wenn sie sagen, sie müsse positiv denken und an Heilung glauben. Immer gelingt ihr das nicht. Vor allem ihre Tochter anzuschauen, fällt ihr anfangs schwer. In den Kinderaugen spiegelt sich ihre Angst vor dem Sterben. Sie versucht sich abzulenken; unternimmt mit Freundinnen Ausflüge auf Weihnachtsmärkte. „Scheiße, ich werde vielleicht sterben“, sagt sie an einem dieser Abende in der Dezemberkälte am Glühweinstand.
Kraft gibt ihr die Nachricht, dass der Krebs schrumpft. Doch mit all den Gedanken und Problemen ist sie allein. In der Chemo-Ambulanz sind alle älter, zwischen 50 und 65 Jahren. Immer wieder sagt sie ihrer Ärztin, dass sie jemanden in ihrer Lebensphase braucht. Jemand, der kleine Kinder hat. Jemand, der ihre Sorgen und Ängste nachvollziehen kann. Über das Krankenhaus findet sie ein paar Monate später eine gleichaltrige Frau. Die Treffen tun ihr gut. Es melden sich mehr Frauen, die Gruppe wächst. Endlich sind da Verbündete. In ihrer Gesellschaft kann auch mal einen Witz über diese beschissene Krankheit machen. Die Gruppe ist über die Jahre auf zwölf Betroffene gewachsen.
Mit fünf Frauen trifft sich Rau immer noch einmal im Monat. Meistens unternehmen sie etwas zusammen: Yoga, Restaurantbesuche, wandern. „Erst neulich waren wir mit Alpakas unterwegs – die Tiere beruhigen“, sagt sie. In den sieben Jahren, die sie sich kennen, sind sie zusammen erwachsen geworden. Zwei sind in der Zeit gestorben. Die anderen kämpfen weiter gegen den Krebs.
Viele junge Betroffene fühlen sich isoliert. Sie werden schlagartig zum Dauerpatienten. Oft reagieren Freunde und Angehörige unsicher, ziehen sich zurück. „Oder es wird nur noch über Arzttermine gesprochen“, erklärt Mehnert-Theuerkauf. Das Umfeld möchte helfen, ist aber überfordert. „Es ist meist hilfreich, wenn die Betroffenen die Familie unterstützen und formulieren, was genau für eine Art von Hilfe sie benötigen.“ Kinder abholen helfen, sich Zeit für ein Gespräch nehmen.
Vor allem den Umgang mit dem Mitleid der anderen musste Rau lernen. Die Frage, wie es ihr geht, hat sie in der Chemo-Zeit gehasst. „Welche Antwort willst du hören? Dass mein Mund durch das Kortison offen ist und ich durch die Medikamente ein psychisches Wrack bin, oder die gelogene?“, fragte sie öfter zurück.
Die häufigsten Krebserkrankungen bei Frauen sind Brustkrebs, gefolgt von schwarzem Hautkrebs und Schilddrüsenkrebs. Bei Männern Hodenkrebs, schwarzer Hautkrebs und Morbus Hodgkin, eine spezielle Form des Lymphdrüsenkrebses. „Da junge Erwachsene oft keine Begleiterkrankungen haben und körperlich überwiegend fit sind, können sie intensiver behandelt werden. Die Heilungsrate liegt bei circa 85 Prozent“, sagt Inken Hilgendorf von der Universitätsklinik Jena. „Langfristig können Spätfolgen nach Chemo- oder Strahlentherapie auftreten, zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder eine zweite Tumorerkrankung.“
Klassische Warnzeichen für eine Krebserkrankung gibt es nicht, Anzeichen sind oft unspezifisch. „Symptome wie Abgeschlagenheit, verminderte Leistungsfähigkeit werden gerade im jungen Erwachsenenalter häufig nicht mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit betrachtet und auf Stress zurückgeführt. Die potenzielle Bedrohung durch eine Krebserkrankung ist oft nicht präsent, was zu einer langen Zeitspanne bis zur Diagnose führen kann“, so Hilgendorf. Wichtig sei, sich nicht abwimmeln zu lassen.
Eine Krebsdiagnose mitzuteilen, ist auch für Ärzte nicht einfach. „Keine Diagnosegespräche an einem Freitag per Telefon. Dann steht das Wochenende vor der Tür und es gibt keine Möglichkeit noch einmal zu sprechen“, rät die Ärztin. Eine zentrale Thematik, die bei jungen Betroffenen auftaucht, ist die Frage: Kann ich später noch Kinder bekommen? Nicht immer ist genug Zeit, um sich zu überlegen, ob man Spermien oder Eizellen konservieren lassen möchte. Bei einer akuten Leukämie zum Beispiel muss schnell gehandelt werden.
Nach überstandener Krebserkrankung kommen weitere erschwerende Faktoren zur Erfüllung des Kinderwunsches hinzu, darunter Benachteiligungen bei der Adoption sowie das Verbot künstlicher Befruchtungen mittels Eizellspende in Deutschland, was in anderen Ländern legal ist.
Zu den medizinischen und psychosozialen kommen finanzielle Folgen. Trotz laufender Therapien sind Zuzahlungen zu leisten, die junge Betroffene aufgrund ihrer noch nicht abgesicherten Existenz besonders hart treffen. In vielen Fällen erfordert die finanzielle Situation die Rückkehr zu den Eltern und so den Verlust der gerade gewonnenen Unabhängigkeit. Bleibt die Unterstützung durch Eltern oder Großeltern aus, könnten junge Menschen schnell auf Sozialhilfe angewiesen sein.
„Am schlimmsten war es, zu erleben, wie alle anderen in ihren Leben weiterkommen, während ich immer nur zu Hause rumsaß“, beschreibt Rau das erste Jahr mit der Krebsdiagnose. Im Mai 2019 werden die restlichen 0,8 Millimeter des Tumors entfernt. Es folgen Bestrahlungen. Durch die Chemo hat sie fast 30 Kilo Gewicht zugenommen, später halbiert sie es wieder. Im Frühsommer 2021 wiegt sie nur noch 45 Kilo. Ihr Risiko einer erneuten Erkrankung liegt bei wenigen Prozent. In Fallstudien aus den USA hat Rau von einem neuen Medikament gehört, mit Antikörper-Wirkstoff. Sie weist ihre Ärztin darauf hin, doch das Medikament ist noch nicht auf dem Markt. Außerdem kostet eine Infusion 10.000 Euro. Die Krankenkasse lehnt ab.
Doch Rau gibt nicht auf, will ihr Krebsrisiko weiter minimieren – für ihre Zukunft, für ihre Tochter. Ihre Ärzte lassen nicht locker. Sie bekommt das Medikament.
Die ersten zweieinhalb Jahre spricht Rau regelmäßig mit einer Psychoonkologin, wirklich verstanden fühlt sie sich vor allem in ihrer Selbsthilfegruppe. Ein psychoonkologisches Angebot ist in zertifizierten Krebszentren stationär verfügbar, ambulant betragen die Wartezeiten häufig zwischen zwei und sechs Wochen. Die Fachkräfte begleiten Patienten zu verschiedenen Zeitpunkten der Erkrankung. In den Einheiten geht es um körperliche und seelische Belastungen, die Einschränkungen variieren stark. Manche Patienten haben kaum Einschränkungen, andere kämpfen über Monate mit den Folgen der Erkrankung und Therapie, wie Schmerzen oder Erschöpfung.
„Die Veränderung des Aussehens und der Selbstwahrnehmung können zu Körperbildstörungen führen, die Depressionen auslösen“, erzählt Mehnert-Theuerkauf. Auch Fragen des Heranwachsens beschäftigen: Wann erzähle ich es meinem Date? Wie kommuniziere ich meine Krankheit überhaupt? Wenn Heilung nicht mehr möglich ist, geht dem meist ein langer Kampf voraus. Dann geht es darum, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. „Freude im Moment finden und die Trauer über ein nicht gelebtes Leben zuzulassen“, rät Mehnert-Theuerkauf.
Ein Jahr nach Therapiebeginn erfüllt sich Rau den lang gehegten Traum von einem eigenen Pferd. Zunächst verheimlicht sie es vor ihrer Familie. Sie will es sich nicht ausreden lassen und nicht warten, bis sie gesund ist. Kurz nach Beenden der Akuttherapie fliegt sie in den Urlaub nach Dubai, später auf die Malediven. Sie fährt auf einem Kreuzfahrtschiff nach Island, in Österreich Ski. Lebensfroh ist sie schon immer gewesen, durch den Krebs hat sie gelernt, nichts mehr aufzuschieben. Heute lebt sie vieles und hält nur noch wenig zurück, zumindest dann, wenn die Angst gerade nicht präsent ist.
Im April 2020 ist sie fast eineinhalb Jahre krankgeschrieben. Ihr Krankengeld läuft aus, die zwei Monate Referendariat sind nicht genug, um EU-Rente zu beziehen. Im Mai fängt sie wieder in der Schule an. Täglich nimmt sie Tabletten. Alle vier Wochen zum Blutbildtest. Trotz der schweren Nebenwirkungen tut ihr der Schulalltag gut. Seit fünf Jahren ist Rau krebsfrei. Doch an die schwere Zeit wird sie in ihrem Alltag immer wieder erinnert. Ob beim Kredit für den Hausbau, der Verbeamtung oder dem Eintritt in die private Krankenversicherung. Die Institutionen benötigen Sicherheiten. Dank Hartnäckigkeit und Risikozuschlag bekommt sie den Kredit. Im letzten Jahr konnte sie verbeamtet werden.
Die Deutsche Stiftung für junge Erwachsene kennt die Herausforderungen ehemaliger Krebspatienten. Sie setzt sich für das „Recht auf Vergessenwerden“ ein, bei dem es darum geht, dass nach dem Zeitraum der Heilungsbewährung die Erkrankung gegenüber Finanzdienstleistern nicht mehr offengelegt werden muss, beziehungsweise, dass Versicherungen oder Banken diese bei der Risikobewertung nicht mehr berücksichtigen dürfen. So soll verhindert werden, dass Abschlüsse verwehrt oder zu schlechteren Konditionen angeboten werden.
Die Angst vor einem Rückfall hört auch nach sieben Jahren für Rau nicht auf. „Meine Prognose liegt bei 98 Prozent, aber wenn sich meine Brüste im Zyklus verändern, fängt mein Gedankenkarussell sofort wieder an.“ Sie rät allen Frauen, sich regelmäßig abzutasten. „Wir alle aus der Gruppe haben den Krebs selbst gefunden.“
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke