Die drei rätselhaften Schädel aus China
Die digitale Rekonstruktion eines rund eine Million Jahre alten Schädels stellt das bisherige Wissen über die menschliche Evolution wortwörtlich auf den Kopf. Zumindest sind manche der beteiligten Anthropologen davon überzeugt.
Ihnen zufolge deutet die neue Analyse eines bereits 1990 in China entdeckten zertrümmerten Fossils unter anderem darauf hin, dass sich der moderne Mensch, Homo sapiens, 400.000 Jahre früher, als bisher auf Basis von Erbgutanalysen angenommen wurde, von anderen menschlichen Vorfahren abgespalten hat.
Die meisten menschlichen Gebeine aus den vergangenen 800.000 Jahren wurden bislang auf fünf Hauptzweige zurückgeführt: den asiatischen Homo erectus, Homo heidelbergensis, Homo sapiens, Homo neanderthalensis und Homo longi, auch als Drachen-Mann bekannt, mit dem die Denisova-Menschen offenbar verwandt sind. Die Bezeichnung Homo longi wurde erst 2021 für einen mehr als 146.000 Jahre alten Schädel geschaffen, den man bei in der Nähe von Harbin im Nordosten Chinas entdeckt hatte.
Komplexe Verwandtschaftsverhältnisse
Nun lässt eine in der Zeitschrift „Science“ veröffentlichte Studie annehmen, dass sich die Abstammungslinien dieser fünf Gruppen bereits vor mehr als einer Million Jahren voneinander trennten. Was laut den Studienautoren belegt, dass die Geschichte unserer Ursprünge nicht nur älter, sondern außerdem viel komplexer ist, als bisher angenommen. Allerdings geht ihre Interpretation des Fundstücks „Yunxian 2“ in dessen Bedeutung zu weit, sie leiten zu viel anatomischen Ähnlichkeiten ab – und lassen wichtige molekulare Indizien außer Acht.
Die aktuelle Analyse von Yunxian 2 hat ein Team unter der Leitung von Forschern der Fudan-Universität in Shanghai und der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking vorgenommen. Neben zwölf chinesischen Wissenschaftlern ist mit Chris Stringer ein erfahrener britischer Paläoanthropologe vom Naturhistorischen Museum in London an der Studie beteiligt.
Bei Ausgrabungen 20 Kilometer westlich von Yunyang – früher Yunxian – in der zentralchinesischen Provinz Hubei wurden bislang drei Schädel neben Tierknochen und Steinwerkzeugen entdeckt. Der dritte Fund aus dem Jahr 2022, Yunxian 3, wird noch näher untersucht, soll aber in einem guten Zustand sein, was bei den ersten beiden nicht der Fall ist: Diese menschlichen Fossilien konnten 1990 an der Fundstätte Xuetangliangzi am Han-Fluss nur zerquetscht und teils stark verformt geborgen werden, wobei Yunxian 2 die Jahrtausende etwas besser überstanden hat.
An dem fragmentierten Fundstück versuchte das Team mithilfe CT-Technik, Strukturlichtbildgebung und ausgefeilter virtueller Rekonstruktionstechniken die ursprüngliche Form auf Basis der erhaltenen Fragmente wieder herzustellen. Anschließend wurde diese mit mehr als 100 anderen Fossilien verglichen.
Der rekonstruierte Schädel beschreiben die Forscher als eine einzigartige Kombination aus primitiven und weiterentwickelten Merkmalen. Er weise einerseits einen großen, gedrungenen Schädel und einen auffällig hervorstehenden Unterkiefer auf, worin Yunxian 2 offenbar dem archaischen Homo erectus ähnelt. Gleichzeitig fänden sich im Gesicht und im hinteren Teil des Schädels schon typische Merkmale wie man sie von evolutionär jüngeren Arten wie dem Homo longi und Homo sapiens kennt, zu diesen passe auch das größere Gehirnvolumen.
Was macht diesen Eiszeit-Typen aus?
Aufgrund des geschätzten Alters und der archaischen Stirn mit ausgeprägten Brauenwülsten war der Schädel bislang einem Homo erectus zugeordnet worden. Die Ergebnisse könnten somit etwas Licht in die wenig erforschte Phase der menschlichen Evolution im mittleren Pleistozän bringen; diese Epoche des Eiszeitalters umfasst die Zeit von vor etwa 774.000 bis 129.000 Jahren.
Sowohl die H. sapiens- als auch die H. longi-Gruppe – beide haben laut dem Anthropologen-Team tiefe Wurzeln, die über das mittlere Pleistozän hinausreichen, und durchliefen womöglich eine ebenso schnelle wie frühe Diversifizierung. Yunxian 2 könnte sich archaische Züge bewahrt haben, die nahe zu den Ursprüngen dieser beiden Abstammungslinien liegen.
Die Ergebnisse lassen darauf schließen, „dass sich unsere Vorfahren bereits vor einer Million Jahren in verschiedene Gruppen aufgeteilt haben, was auf eine viel frühere und komplexere Aufspaltung der menschlichen Evolution hindeutet, als bisher angenommen“, erklärt Anthropologe Chris Stringer.
Das Fundstück Yunxian 2 könnte helfen, das zu lösen, was Stringer mit britischem Humor als ‚muddle in the middle‘, Durcheinander in der Mitte, bezeichnet: „Also die verwirrende Vielfalt menschlicher Fossilien aus der Zeit zwischen 1 Million und 300.000 Jahren vor heute“, erklärt der britische Anthropologe. „Fossilien wie Yunxian 2 zeigen, wie viel wir noch über unsere Ursprünge lernen müssen.“
Die Neubetrachtung der chinesischen Fossilien legt laut den Studienautoren in einer Mitteilung des Natural History Museum in London nahe, dass es frühere Mitglieder der Heidelbergensis-, Neandertaler-, Sapiens- und Longi-Linien geben muss, „die darauf warten, entweder anerkannt oder entdeckt zu werden“.
„Ich halte es für gut, wenn ‚Science‘ provokative Studien wie diese veröffentlicht. Sie können dazu beitragen, dass sich die Fachwelt mit einigen der schwierigsten Probleme auseinandersetzt“, kommentiert US-Anthropologe John Hawks, Professor an der University of Wisconsin in Madison, die Veröffentlichung in seinem populären Blog. Aber die Schlagzeilen, die er dazu gelesen habe, seien allesamt Unsinn: Die Studie schreibe die menschliche Evolution nicht neu, weise nicht auf einen früheren Ursprung des modernen Menschen hin – und sie zeichne auch nicht den Stammbaum der Menschheit neu. Was die Autoren aber anklingen lassen.
Hawks‘ harsche Kritik an den Medien, aber auch an der Gesamtanalyse ist durchaus berechtigt, denn die anatomischen Vergleiche wurden nicht in einen Zusammenhang mit bisherigen Ergebnissen aus DNA- oder Protein-Untersuchungen gebracht. Dabei existieren inzwischen robuste molekulare Vergleiche zwischen Neandertalern, Denisova-Menschen und Homo sapiens.
Anfang 2025 konnte Qiaomei Fu und ihr Team beispielsweise im Fachjournal „Cell“ zeigen, dass der Harbin-Schädel, alias Homo longi, eine sogenannte mitochondriale DNA-Sequenz aufweist, die innerhalb der Variation von menschlichen Überresten aus der Denisova-Höhle im sibirischen Altai-Gebirge liegt. Und auch Protein-Vergleiche stellen in „Science“ eine verwandtschaftliche Verbindung zwischen dem Drachen-Mann und Denisova-Menschen her. Deren Gruppe, die als phylogenetische Schwestergruppe der Neandertaler gilt, war vor allem in Asien verbreitetet und stammt wohl von gemeinsamen Vorfahren mit dem Neandertaler vor mehr als 600.000 Jahren ab. Diese Vorfahren waren einige Zeit früher von den afrikanischen Hominiden-Gruppen abgezweigt, aus denen vor rund 750.000 Jahren dann der moderne Mensch, sprich Homo sapiens hervorging.
„Meiner Meinung nach hilft die neue Arbeit, die Überschneidungen zwischen der Denisova-Gruppe und Homo erectus sowie anderen archaischen Menschengruppen hinsichtlich Schädelgröße, -form und -gestalt aufzuzeigen“, sagt Hawks. Diese Überschneidungen würden sowohl Anpassung an Umweltbedingungen als auch einen gewissen Genfluss widerspiegeln – und könnten helfen, die „super-archaischen“ Merkmale im Erbgut von Menschen aus grauer Vorzeit zu verstehen.
Dass der nun erstellte – anatomische – Stammbaum Homo longi und den modernen Menschen als Schwestergruppen einordnet, mit den Neandertalern als Außengruppe, widerspricht Ergebnissen aus Erbgutanalysen. Doch Hawks meint, man könne beides miteinander verknüpfen, anatomische Merkmale und genetische Details – als verschiedene Aspekte derselben Geschichte: Möglicherweise gehe die rätselhafte „tiefe Abstammung“ der Denisova-Menschen auf frühere Homo erectus-ähnliche Populationen Ostasiens zurück.
Dementsprechend zieht Hawks seine eigenen Schlüsse aus der aktuellen „Science“-Studie. „Die uralten (Hominiden-)Gruppen Chinas und Ostasiens waren einst lose miteinander verbunden in einem Netzwerk, das sich möglicherweise über Hunderttausende von Jahren erstreckte“, so skizziert es der Anthropologe. „Neuankömmlinge in der Region, wie die ersten Denisova-Menschen, trafen auf Menschen, deren Vorfahren sich schon sehr lange an die lokalen Gegebenheiten angepasst hatten. Ihre Biologie wies Übereinstimmungen auf.“
Für diese Ähnlichkeiten gibt es allerdings mehrere verschiedene Erklärungen, was es Wissenschaftlern laut Hawks nicht leicht macht, diese Urvölker anhand von evolutionsbiologischen Mustern zu klassifizieren. Solche Gruppe als jeweils eigene Arten zu benennen, das stiftet am Ende gar mehr Verwirrung als Ordnung. Vielleicht erhellt Schädel Yunxian 3 eines der noch im eiszeitlichen Dunkeln liegenden Kapitel der Menschheitsgeschichte: Für die Untersuchung der Verwandtschaftsverhältnisse könnte dieser von zentraler Bedeutung sein.
Seit mehr als 25 Jahren verfolgt Sonja Kastilan als Wissenschaftsjournalistin ein breites Themenspektrum aus Medizin und Lebenswissenschaften: von Aids und Demenz über Evolutionsbiologie und Homo sapiens hin zu Stammzellen und Zika.
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