„Das würde die Behandlung wesentlich gezielter machen“
Zum ersten Mal haben Forscher des Niederländischen Instituts für Neurowissenschaften und des Amsterdam University Medical Centers (UMC) herausgefunden, was in neuronalen Netzwerken tief im Gehirn während zwanghafter Gedanken und Verhaltensweisen geschieht. Mithilfe von im Gehirn implantierten Elektroden konnten sie beobachten, wie bestimmte Gehirnwellen aktiv wurden. Diese Gehirnwellen dienen als Biomarker – messbare körperliche Hinweise aus dem Körper für die Zwangsstörung (OCD) – und stellen einen wichtigen Schritt in Richtung gezielterer Behandlungen dar.
OCD ist eine psychiatrische Erkrankung, bei der Betroffene unter Zwangsgedanken und Zwangshandlungen leiden. Ein bekanntes Beispiel ist die Angst vor Ansteckung: Jemand hat ständig Angst, sich zu infizieren und fühlt sich gezwungen, sich immer wieder die Hände zu waschen.
Dabei scheint die Kommunikation zwischen Großhirnrinde, Striatum und Thalamus gestört zu sein – Hirnareale, die gemeinsam den sogenannten CSTC-Schaltkreis bilden. Normalerweise koordiniert dieser Kreislauf vor allem Bewegung sowie Motivation und spielt eine wichtige Rolle bei der Impulskontrolle.
Für Patienten mit besonders schweren Zwangsstörungen wird die tiefe Hirnstimulation als Behandlungsmethode eingesetzt. Dabei werden Elektroden tief im Gehirn platziert, um Teile des CSTC-Schaltkreises elektrisch zu stimulieren und so die Symptome zu lindern. Zwar hilft diese Methode in vielen Fällen, doch bei etwa 30 Prozent der Patienten lassen sich die Symptome nicht vollständig oder ausreichend reduzieren. Zudem kann es Monate dauern, die Stimulation individuell so einzustellen, dass sie wirksam ist.
Um die Behandlung zu verbessern, ist es entscheidend zu verstehen, wie die Störung des CSTC-Kreislaufs mit Zwangsstörungen zusammenhängt. Daher untersuchte die Forschungsgruppe um Ingo Willuhn in Zusammenarbeit mit Kollegen des Amsterdam UMC, was genau im Gehirn während eines Zwangsgedankens und der anschließenden Zwangshandlung geschieht. Dabei fanden sie wichtige Biomarker für Zwangsstörungen.
In der in Nature Mental Health veröffentlichten Studie nutzten die Wissenschaftler die implantierten Hirnstimulations-Elektroden, um Gehirnaktivität ohne Stimulation zu messen. „Das machen wir schon seit Jahren in Tiermodellen“, erklärt Tara Arbab, Erstautorin der Studie, „aber bei Patienten ist diese Technologie noch neu.“
Erstmals Biomarker für Zwangsstörungen
Die Patienten wurden gebeten, bewusst Zwangsgedanken auszulösen. So musste beispielsweise jemand mit Angst vor Ansteckung einen schmutzigen Boden berühren, durfte sich aber erst später die Hände waschen. Währenddessen wurde die Aktivität in Hirnregionen gemessen, die normalerweise mit der Elektroden-Therapie stimuliert werden. „Das Besondere an dieser Studie ist, dass wir die tiefe Gehirnaktivität mit sehr hoher räumlicher und zeitlicher Präzision messen konnten“, sagt Arbab. „Das ist mit fMRT oder EEG nicht möglich.“ Dies sind beides nicht-invasive Messmethoden.
Die gemessene Aktivität ganzer neuronaler Netzwerke wurde anschließend nach Gehirnwellen unterschiedlicher Frequenzen gefiltert. Dabei stellten die Forscher fest, dass zwei dieser Wellen, die Alpha- und die Delta-Wellen, besonders stark während der Ausführung von Zwangshandlungen auftraten. Diese Wellen lassen sich somit spezifisch mit Zwangsstörungen in Verbindung bringen – eine Besonderheit: „In der Psychiatrie ist es fast nie möglich, ein Symptom so direkt mit Gehirnaktivität zu verknüpfen. Diese Studie zeigt, dass es doch möglich ist“, erklärt Arbab.
Für die neue OCD-Studie wurde die Gehirnaktivität im gesamten neuronalen Netzwerk während Momenten von Obsession, Kompulsion und Erleichterung gemessen und mit einer Basislinie als Referenz verglichen. Dabei traten verschiedene Arten von Gehirnwellen auf, wobei Alpha- und Delta-Wellen relativ häufig beobachtet wurden.
Allgemein entsprechen Alpha-Frequenzen elektrischen Wellen im Gehirn mit acht bis 13 Schwingungen pro Sekunde. Sie treten in verschiedenen Hirnarealen häufig bei entspannter Wachheit auf. Delta-Frequenzen entsprechen einer halben bis vier Schwingungen pro Sekunde und stehen mit tiefer Entspannung und Schlaf in Verbindung. Jüngere Studie lassen etwa vermuten, dass sie auch mit der raschen Koordination verschiedener Hirnareale in Zusammenhang stehen könnten, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf eine neue Aufgabe richten.
Diese Ergebnisse bringen die Wissenschaft einem grundlegenden Verständnis von Zwangsstörungen einen Schritt näher. „Zum ersten Mal haben wir im Gehirn einen klaren biologischen Marker für OCD gefunden – einen Marker, den wir möglicherweise in zukünftigen Behandlungen nutzen können“, sagt Arbab.
Derzeit funktioniert die tiefe Hirnstimulation noch wie ein System, dass immer „angeschaltet“ ist. Die Elektroden senden kontinuierlich elektrische Signale, ohne zu unterscheiden, wann dies nötig ist und wann nicht. Die neu entdeckten neuronalen Biomarker eröffnen daher den Weg zu einem intelligenteren Ansatz. „Langfristig hoffen wir auf ein System, bei dem die Elektroden nur dann stimulieren, wenn sie ein Signal messen, das einem zwanghaften Verhalten entspricht“, erklärt Arbab. „Das würde die Behandlung wesentlich gezielter machen.“
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