„Wir wussten immer, dass es dort ein Massengrab mit Babys gab“
Marie und Colin Mills sind einverstanden, dass ein Team aus Archäologen und Forensikern Ende Juli begonnen hat, das Gelände neben ihrem Haus zu durchwühlen – auf der Suche nach den Überresten von fast 800 Babys – genauer gesagt: 796. Es sind die verlorenen Kinder von Tuam, die zum Symbol der unbequemen und grausamen Vergangenheit Irlands geworden sind und für die Last der Scham – oder der „Sünde“ –, die die katholische Kirche auf die Schultern tausender armer und lediger Frauen gelegt hat.
„Anfangs war hier ein ständiges Kommen und Gehen von Lastwagen, die ständig Material für die Arbeiten anlieferten. Jetzt ist alles viel ruhiger und sie stören nicht mehr“, sagt Colin, der seit fast einem halben Jahrhundert in dieser Gegend der Grafschaft Galway lebt. „Wir wussten immer, dass es dort ein kleines Massengrab mit Babys gab. Das Ausmaß begriffen wir erst, als Catherine Corless es aufgedeckt hat. Denn hier stand immer das Waisenhaus, davor war es ein Armenhaus. Und alles vermischt sich mit den Toten der Hungersnot“, erinnert er sich.
Die Geschichte aus Tuam ist ein Mosaik aus vielen Einzelschicksalen. Es ist die Geschichte von Catherine Corless, Angestellte in einer Textilfabrik, Hausfrau und autodidaktische Historikerin, die vor fast zehn Jahren mit detektivischer Ausdauer eine Wahrheit ans Licht förderte, die die irische Bevölkerung erschütterte.
Es ist die Geschichte des St. Mary-Heims in Tuam, ein Heim für ledige Mütter und ihre Kinder, das seit 1925 und bis 1961 von den Ordensschwestern des Ordens „Sisters of the Good Shepherd“ betrieben wurde. Die meist ungewollt Schwangeren brachte man im katholischen Irland hierher. Es gab mehrere solcher Mutter-Kind-Heime mit grausamer Geschichte, wie man heute weiß. Tausende, wird vermutet, seien in den Heimen unter Aufsicht von Staat und Kirche gestorben.
Ein dunkles Kapitel Irlands
Es ist die Geschichte von Daniel MacSweeney, der nach einer Karriere mit dem Roten Kreuz auf der Suche nach Vermissten in aller Welt zurück in seine Heimat kommt, um die Überreste jener Babys zu finden. Schließlich ist es die Geschichte eines jungen Staates, die Republik Irland, die ein Jahrhundert gebraucht hat, um eines ihrer dunkelsten Kapitel aufzuarbeiten.
„Tuam ist der ikonische Ort und ein Symbol für all die anderen Geschichten, die wir in den vergangenen 20 Jahren über die Rolle der Kirche im irischen Staat erfahren haben“, erklärt MacSweeney, der Leiter der „Genehmigten Intervention von Tuam“, wie das Projekt auf dem 5000 Quadratmeter großen Gelände des St. Mary-Heims heißt, das in den Siebzigerjahren abgerissen wurde.
Vor wenigen Wochen begannen die Ausgrabungen. „Es könnte das Beispiel werden, das die Politik dazu bringt, auch andere Gräber zu öffnen“, hofft er. Sein Team hält sich an internationale forensische Standards und bewährte Praktiken – und möchte bei allen Recherchen die Familien und Überlebenden ins Zentrum stellen.
Er zählt auf, wie die heikle Aufgabe in den kommenden zwei Jahren bewältigt werden soll. „Wir haben forensische Archäologen, Bioarchäologen [die vor allem Knochenreste untersuchen, Anm. d. Red.], Fotografen, Leute für die Katalogisierung der Überreste. Wir arbeiten mit GPS-Systemen und 3D-Rekonstruktionen. Und wir haben unser eigenes Labor-Leichenschauhaus, in dem wir anthropologische Untersuchungen und DNA-Analysen durchführen.“ MacSweeney versprach, jeden Zentimeter Boden zu überprüfen.
Es gibt zwei Zugänge zu dem Grundstück, auf dem sich kürzlich noch ein Spielplatz befand. In den vergangenen Jahren entstand hier ein improvisierter Schrein mit Blumen, Gedenktafeln und Erinnerungsstücken an die Babys. Ein hoher Zaun versperrt die Forschungsarbeit vor neugierigen Blicken. Ein Schild verbietet sogar Drohnenflüge. Die Ausgrabungen werden streng geschützt.
Catherine Corless wartet an einem der Eingänge. Geduldig erzählt sie von ihrer Odyssee. Eine lokale Historikergruppe hatte sie vor über zehn Jahren gebeten, einen Artikel für deren Jahrbuch zu schreiben. Corless erinnerte sich an ihre eigene Schulzeit, an kleine Kinder, die stets verängstigt und zu spät zum Unterricht kamen und früher gingen als die anderen.
Ausgemergelt und schweigend kehrten sie wieder zurück in das Heim der Nonnen. Keines von ihnen durfte je eine weiterführende Schule besuchen. Es war nicht leicht, die Geschichte zu rekonstruieren. Es gab kaum Unterlagen. Corless musste sich auf die Erzählungen der wenigen Nachbarn verlassen, die von ihren Fenstern aus nur wenig von dem mitbekamen, was hinter den Mauern geschah.
Mit so vielen Fällen hatte sie nicht gerechnet
„Die Nachbarn erinnerten sich daran, wie die Kinder geschlagen wurden. An ihr ständiges Weinen und entsetzliche Szenen“, berichtet sie. „Sie erzählten mir von den Begräbnissen, am späten Nachmittag oder nachts. Von den oberen Stockwerken ihrer Häuser aus konnten sie beobachten, wie Gräber ausgehoben wurden. Ich fragte, ob ein Priester anwesend war.“
Die Antwort lautete: „Nein“, erzählt die Historikerin – und berührt damit den wunden Punkt: Die Geburten und Taufen der Kinder waren registriert, auch ihre Todesfälle. Nicht aber ihre Bestattungen. Kein Priester, keine Zeremonie, kein Kreuz, keine Statue erinnerte an sie. Corless erinnert sich an ihren Schock, als ihr eine Beamtin des Landkreises die Sterbeurkunden übergab. Corless hatte mit 20 oder 30 Fällen gerechnet. Es waren fast 800.
Mit dem Spürsinn einer Agatha Christie bat Corless den Leiter des einzigen Friedhofs von Tuam um Hilfe. „Wir saßen an einem regnerischen Tag in seinem Lieferwagen und verglichen unsere Listen, alphabetisch. Meine Liste mit 796 Babys, seine mit allen Bestattungen. Kein einziges dieser Kinder war darauf zu finden. Die Frage lag auf der Hand: Wo sind all diese Leichen?“
1975 beschädigten zwei spielende Jungen zufällig den Deckel eines alten Abwassertanks, der zu einem stillgelegten System gehörte. Sie fanden kleine menschliche Knochen. Die Gemeindeverwaltung ließ das Loch zuschütten und einen Spielplatz bauen, um offensichtlich etwas zu vertuschen. Für Corless, die vor zehn Jahren recherchierte, der entscheidende Hinweis.
International sorgte die Geschichte für Aufsehen und unzählige Medien berichten von Catherine Corless’ Entdeckung. Erst nach Testgrabungen 2016, die in dem alten Kanalsystem eine „erhebliche Anzahl“ menschlicher Überreste zutage förderten, gab die irische Regierung 2018 den formalen Auftrag zu den forensischen Ausgrabungen.
Der Orden der „Sisters of the Good Shepherd“ wies noch während der zutage tretenden Grausamkeiten jede Verantwortung zurück. Den Bericht der Historikerin bezeichnete der Orden als lächerlich und versuchten, den Knochenfund auf die Hungersnot in Irland Mitte des 19. Jahrhunderts zu schieben – oder auf das frühere Armenhaus.
„Jede Mutter musste das Heim nach einem Jahr verlassen und ihr Kind zurücklassen“, so die Heimvorschrift. Man kann sich vorstellen, wie den Müttern das Herz brach. Die Gesundheit der Säuglinge, die meist von ihren Müttern gestillt wurden, verschlechterte sich rapide.
„Ich kann nur spekulieren. Die Nonnen wollten nicht, dass bekannt wird, wie viele Kinder in diesem Heim starben. Hätten sie sie auf dem Friedhof beerdigt, hätten sie Leichenwagen und Särge gebraucht. Deshalb wurden die Kinder in der Grube verscharrt. Sie hielten die Babys für nicht wertvoll“, glaubt Corless. „Sie standen für die Sünde ihrer Mütter. Die Nonnen verachteten die Frauen und Kinder. Und sparten Geld“, erklärt die Historikerin.
Anna Corrigan sucht seit Jahren nach ihren beiden Brüdern – ob sie noch leben oder gestorben sind. Ihre Mutter brachte sie im Heim der Nonnen von Tuam zur Welt. 1946 kam John Desmond Doland zur Welt, vier Kilogramm schwer. 14 Monate später starb er „abgemagert nach extremem Hunger und Zeichen einer geistigen Behinderung“. William Joseph kam vier Jahre später zur Welt. Anna vermutet, dass er illegal zur Adoption freigegeben wurde.
Die Nachforschungen von Corless gaben ihr neue Hoffnung, die Ausgrabungen tun es nun auch. „Es ist ein Neuanfang. Mal sehen, was dabei herauskommt. Wir kämpfen seit über zehn Jahren – das hier ist wie ein kleines Licht am Ende des Tunnels“, sagt Anna. Doch bleibt sie skeptisch: „Die Forscher sind sehr kompetent, arbeiten allerdings unter erheblichen gesetzlichen Einschränkungen. Wie viele Babys werden wir finden? Woher wissen wir, welche fälschlich für tot erklärt wurden, um sie illegal zur Adoption freizugeben?“
Sarah-Anne Buckley ist Professorin an der Universität Galway und Expertin für die Geschichte von Frauen und Kindern in Irland. „Seit 1929 war jegliche Information über Verhütungsmittel verboten. Ab 1935 waren sie gesetzlich verboten – bis 1979“, erklärt sie. „Die Frauen, die gezwungen wurden, ins Heim von Tuam zu gehen, stammten aus den Grafschaften Galway oder Mayo. Es waren Töchter von Landarbeitern oder Dienstmädchen. Sie gehörten zur Unterschicht und wurden durch ihre Schwangerschaft stigmatisiert.“
Die irische Regierung lässt die Fälle untersuchen
Die Kommission zur Untersuchung von Mutter-Kind-Heimen, die die irische Regierung einsetzte, kam 2021 zu dem Schluss: Mindestens 9000 Kinder sind in solchen Einrichtungen überall im Land gestorben. Buckley arbeitet nun an einem Projekt, das die Geschichten von Überlebenden und ihren Familien sammelt. „Man behandelte sie schlecht. Oder zumindest nicht so, wie es Frauen nach einer Geburt brauchen“, erklärt Buckley.
„Sie mussten arbeiten, viele Familien waren verpflichtet, das letzte bisschen Geld zu bezahlen, das sie besaßen.“ Die meisten Mütter hätten die Region später auf der Suche nach Arbeit verlassen. „Viele von ihnen versuchten erfolglos, den Aufenthaltsort ihrer Kinder herauszufinden.“
Die Schwestern des Ordens „Sisters of the Good Shepherd“ baten 2021 in einer offiziellen Erklärung um Verzeihung, ebenso die katholische Kirche, die Grafschaft Galway und der irische Staat. Doch für Corless und alle Opfer, die sich an ihre Nachforschungen klammerten, reicht ein Stück Papier nicht aus.
„Niemand fragte: ‚Was sollen wir tun?‘ Sie lasen die Erklärung ab und damit war die Sache für sie erledigt“, erzählt Corless. Aber für Tausende Menschen bestehe das Problem nach wie vor. „Und es bleibt schmerzhaft.“ Vielleicht war die größte Tragödie jene der Frauen: doppelt misshandelt – körperlich ausgebeutet und ihrer Kinder beraubt.
Dieser Text erschien in Kooperation mit der Zeitung „El País“ und stammt aus der Zeitungskooperation Leading European Newspaper Alliance (LENA), zu der auch WELT AM SONNTAG gehört. Übersetzt aus dem Spanischen von Bettina Schneider, redaktionell bearbeitet von Clara Ott.
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