Forscher beweisen: Damit unser Immunsystem hochfährt, muss die mögliche Infektionsquelle nur in unserer Nähe auftauchen, ganz so, als hätten wir uns bereits angesteckt.

Passiert es in der Bahn oder im Bus, können wir meist ausweichen: Eine Frau niest lauthals, ein Mann röchelt und wirkt sehr blass, ein Kind hustet aus voller Lunge.

Eingeschränkter sind unsere Fluchtmöglichkeiten jedoch im vollen Kino oder im Theater, wenn Aerosole und infektiöse Tröpfchen den Atemtrakt eines Menschen, der in unserer Nähe sitzt, wie aus einer Sprühflasche verlassen. Völlig hilflos sind wir allerdings selbst dann nicht, wie jetzt die Studie eines Teams der Schweizer Universitäten Genf und Lausanne im Journal "Nature Neuroscience" zeigen konnte: Es reicht fürs Erste, eine Infektionsquelle in unserer Nähe nur zu entdecken, um die geballte Körperabwehr zu alarmieren.

Zu den Vorzügen unserer per Evolution geerbten Grundausstattung gehört nämlich, dass wir unsere Umgebung ständig wie im Radar unter Beobachtung haben. Dazu müssen wir nicht einmal den Kopf drehen oder Augen und Ohren bewusst aufsperren. Denn dieses Überwachungssystem arbeitet autonom, also unabhängig von unserem Bewusstsein. Es fordert allerdings blitzartig unsere Aufmerksamkeit, wenn etwa Unerwartetes geschieht und womöglich Gefahr droht. Dann heißt es, der Bedrohung zu begegnen oder das Weite zu suchen. Wissenschaftlich wird diese als Reflex in uns verankerte Reaktion zumeist "Fight or Flight" genannt. Was also passiert, wenn sich uns eine potenzielle Infektionsquelle nähert?

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Um das herauszufinden, wurden jetzt insgesamt 248 gesunde Freiwillige (Durchschnittsalter knapp 27, etwa die Hälfte Frauen) ins Labor gebeten und mit einer VR-Brille ausgestattet, die es erlaubte, die Probanden wenigstens virtuell in eine solche Situation zu versetzen. Natürlich entsprach die nicht exakt dem alltäglichen Leben. Aber im Bus oder im Kino steht das Instrumentarium eines Labors nun mal nicht zur Verfügung. Zudem wäre es ethisch nicht vertretbar, Menschen für einen solchen Versuch einem echten Infektionsrisiko auszusetzen. Also wurde die Bedrohung virtuell in der Brille erzeugt. Und das reichte tatsächlich, um zu spannenden Einsichten zu kommen.

Bei einleitenden Untersuchungen aller Probanden ging es vor allem darum, psychische Besonderheiten – etwa eine auffallende Ängstlichkeit oder auch eine besondere Sensibilität für Ekel – auszuschließen. Alle Versuchsfreiwilligen sollten von ihrer physischen und psychischen Gesundheit her möglichst gleiche Voraussetzungen mitbringen, damit die eigentlichen Messergebnisse in den Versuchen nicht verzerrt wurden. Dann wurden drei Gruppen gebildet und mit unterschiedlichen Avataren konfrontierte: Zuerst war das ein vom Computer erzeugtes Gesicht mit neutralem Ausdruck. Der zweite Avatar trug einen großflächigen rötlichen Ausschlag mit einer angedeuteten Leidensmine. In einer dritten Version fehlte der Ausschlag, dafür waren die Gesichtszüge wie im Schreck verzerrt. 

Für alle drei in der VR-Brille erzeugten Situationen wurden nicht nur die Reaktionen des Gehirns gemessen, sondern auch die Konzentration bestimmter Immunzellen im Blut der Versuchspersonen. Und die rührten sich tatsächlich, sobald der vermeintlich ansteckende Avatar bis zum "peripersonalen Raum" vordrang. Oder einfacher gesagt: Er musste den Versuchspersonen auf die Pelle rücken.

Wenn dem Immunsystem die Nähe zu groß wird

Der Raum unmittelbar neben unserem Körper ist dabei so etwas wie eine private Sperrzone, die im Gehirn sogar von einem eigenen neuronalen System überwacht wird. Als gedankliches Konzept wurde diese Zone mit durchaus variablen und situationsabhängigen Grenzen bereits in den 1960er Jahren entwickelt. Demnach beginnt dieser Nahraum dort, wo es uns unangenehm wird, sollten Fremde weiter auf uns zukommen. Tatsächlich lässt sich etwa in überfüllten Bahnen oder Bussen messen, wie der Stresslevel der Fahrgäste hochfährt, wenn ein als angenehm empfundener Abstand nicht mehr eingehalten werden kann.

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Darum war es dieser "peripersonale Raum", der die Forschenden besonders interessierte: Wie würde sich die virtuell eingespielte Infektionsquelle auswirken, wenn sie den Probanden so nah kam? Die beobachteten Hirnaktivitäten in dieser Situation entsprachen den Erwartungen. Das Alarmsystem zündete und löste den "Fight or Flight"-Reflex aus. Zudem wurden Areale im Hirn aktiv, von denen bereits aus früheren Untersuchungen bekannt war, dass sie auf das Immunsystem einwirken. 

Musste sich die Grenzüberschreitung durch den Avatar dann aber nicht auch biochemisch im Körper der Probanden nachweisen lassen? Tatsächlich fanden sich in den Proben der zur Ader gelassenen Versuchspersonen bestimmte Arten weißer Blutkörperchen ("innate lymphoide Zellen" und "natürliche Killerzellen") die zur angeborenen ersten Verteidigungslinie unseres Körpers gehören und bei Bedarf mobilisiert werden können. Und genau das war offenbar geschehen, wenn sich ein krank wirkendes Gesicht näherte. Nicht aktiviert wurden die Immunzellen dagegen bei einem neutralen Gesichtsausdruck des Gegenübers in der VR-Brille und auch nicht, wenn dieses Gesicht ängstlich verzerrt war und somit keine Ansteckung, sondern irgendeine nicht näher definierte Gefahr in der Nähe andeutete.

Immun-Stimulation mit der VR-Brille

Dass dem Immunsystem wirklich eine Infektionsgefahr vorgegaukelt worden war, zeigte sich bei der Kontrolluntersuchung mit einer Vergleichsgruppe, die nicht einmal die VR-Brille aufsetzen musste. Stattdessen wurde sie nur gegen die saisonale Grippe geimpft – mit einem echten Piks, nicht virtuell. Denn auch eine solche Impfung aktiviert das Immunsystem und gaukelt eine echte Infektion vor, ohne die tatsächlich auslösen zu können. Die Konzentration der entsprechenden Immunzellen und damit die Aktivität der ersten Verteidigungslinie entsprach den Werten, die auch bei der vermeintlichen Bedrohung unter der VR-Brille gemessen worden waren. 

Dabei wussten die Probanden ja sogar, dass sie in einem Experiment waren und ihnen im Blickfeld der VR-Brille kein realer Mensch und damit auch keine wirkliche Gefahr begegnete. Für das autonome Gehirn aber machte das keinen Unterschied, und es fuhr die Abwehr vorsichtshalber hoch – ein ermutigendes Ergebnis. Denn es bedeutet, dass wir auch unbewusst ständig auf der Hut sind. Natürlich ersetzt diese erste, angeborene Abwehrlinie keine Impfungen und auch keine Verhaltensregeln, wie wir sie noch aus der Pandemie kennen, um Infektionen möglichst ganz zu vermeiden. Doch es ist beruhigend zu wissen, dass wir offenbar nie ganz schutzlos sind.

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