Die Dosis macht das Gift – das gilt auch für den Zusammenhang zwischen Bildschirmzeit und Kurzsichtigkeit. Bis zu etwa einer Stunde pro Tag steige das Risiko zufolge kaum, sagt Norbert Pfeiffer, Direktor der Augenklinik der Universitätsmedizin Mainz, unter Verweis auf eine kürzlich vorgestellte Übersichtsstudie. Danach bedeute jede weitere Stunde ein deutliches Risikoplus von jeweils etwa 20 Prozent.

Ab etwa fünf Stunden Bildschirmzeit flache die Kurve ab, das Risiko, kurzsichtig zu werden, steige dann offenbar nur noch allmählich weiter. Einbezogen wurde die Zeit an Smartphone, Tablet, Spielkonsole, Computer und Fernseher.

Bei Kurzsichtigkeit, auch Myopie genannt, werden entfernte Objekte unscharf wahrgenommen. Während die Lebenserwartung und auch die Fitness Älterer in vielen Ländern zunehmen, hat sich die Sehkraft ganzer Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten mit schier unglaublicher Geschwindigkeit verschlechtert. Und mit der Verbreitung von Smartphones drohe sich die Myopie-Welle noch einmal höher aufzutürmen, warnt Pfeiffer, Vorstandsmitglied der Stiftung Auge.

Jeder Zentimeter näher dran erhöht das Risiko stärker

Die im Fachjournal „Jama Network Open“ vorgestellte Analyse hatte 45 Studien aus den vergangenen Jahren mit insgesamt mehr als 330.000 Teilnehmenden unterschiedlichen Alters einbezogen. Einschränkend geben die Autoren zu bedenken, dass andere Nahseh-Aktivitäten wie Lesen oder Schreiben – die ebenfalls zum Myopierisiko beitragen – nicht berücksichtigt wurden. In vielen asiatischen Regionen sei die Zahl kurzsichtiger Menschen bereits vor der weitverbreiteten Nutzung digitaler Geräte hoch gewesen.

Um das Risiko für Kurzsichtigkeit zu senken, sollten wahrscheinlich alle Naharbeit-Aktivitäten minimiert werden, erklärt das Team um Young Kook Kim vom National University College of Medicine in Seoul. Pfeiffer zufolge ist jeweils der Abstand zum Auge entscheidend. Und auch hier gebe es eine Dosis-Wirkungs-Beziehung: „Jeder Zentimeter näher dran erhöht das Risiko stärker.“

Daher sei wahrscheinlich, dass die Zeit vor den winzigen Bildschirmen von Smartphones, die oft 20 Zentimeter oder näher vor den Augen gehalten würden, den weitaus größten Einfluss habe. „Beim Buch sind es meist eher 30, 40 Zentimeter – zudem lesen viele Kinder kaum noch Bücher.“ Der meist mehrere Meter entfernte Fernseher wiederum stelle vermutlich kein großes Problem dar, auch beim Computerbildschirm sei der Abstand mit etwa 60 Zentimetern vergleichsweise groß.

Die Entwicklung gewinnt an Brisanz, wenn man sich klarmacht, wie sehr sich die Kindheit verändert hat und weiter verändert: Vor Jahren steckten Kinder frühestens mit etwa sieben Jahren die Nase für längere Zeit in Bücher, sobald sie flüssig lesen konnten. Heute sieht man in Alltagssituationen – im Bus oder beim Umhergefahrenwerden im Buggy – schon Zwei- bis Dreijährige gebannt aufs Smartphone starren, die mit Trickfilmkost in Endlosschleife ruhig gehalten werden. „Je früher sich das Auge anzupassen beginnt, desto größer ist der Effekt am Ende“, sagt Pfeiffer. „Wir bekommen es mit einer Epidemie der Kurzsichtigkeit zu tun“, befürchtet er.

Fast alle Rekruten in Südkorea sind kurzsichtig

Die Bildschirmzeit steige rasant, auch schon bei jungen Kindern, warnten Experten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erst kürzlich. Demnach verbringen zum Beispiel Sieben- bis Zwölfjährige in Frankreich bereits mehr als zwei Stunden täglich am Bildschirm. In Deutschland besitzen mehr als die Hälfte der Zehnjährigen ein eigenes Smartphone; mit 15 haben fast alle ein Gerät und kommen im Mittel auf fast sieben Stunden Bildschirmzeit pro Tag.

Zahlen dazu, wie viele junge Menschen hierzulande inzwischen kurzsichtig sind, gebe es nicht, sagt der Mainzer Augenmediziner Pfeiffer. „Es würde mich nicht wundern, wenn es bei den 10-Jährigen schon etwa 40 Prozent wären.“ In Südkorea zeigen Untersuchungen bei Rekruten demnach, dass über 96 Prozent, also fast alle, kurzsichtig sind. Ähnliche Daten gibt es aus China und Taiwan. Generell sei das Problem in asiatischen Ländern größer – unter anderem wegen der oft wesentlich längeren täglichen Lernzeiten.

Wie ständiges Nahsehen das Auge verändert

„Unser Sehsystem ist für die Ferne geschaffen“, erklärt Pfeiffer. Zehntausende Jahre lang spähte der Mensch damit vor allem nach Bedrohungen und Beute. Anstrengen musste sich das Auge nur, wenn etwas von Nahem betrachtet wurde. Darauf, dass wir plötzlich alle Stubenhocker werden und über Stunden auf winzige Bildschirme starren, war die Evolution schlichtweg nicht eingestellt.

„Nahsehen beginnt ab etwa fünf Metern“, sagt Pfeiffer. Je näher das Objekt, desto stärker zieht sich der sogenannte Ziliarmuskel zusammen, die Form der elastischen Linse verändert sich. Dadurch bleibt das Bild auf der Netzhaut auch im Nahbereich scharf. Ständiges Nahsehen führt jedoch zu einer Anpassungsreaktion, mit der das Auge die energieaufwendige Muskelarbeit verringert: Der Augapfel wächst in die Länge, der Brennpunkt des Auges liegt in der Folge vor der Netzhaut. Nahe Objekte werden dadurch schon mit weniger Muskelarbeit scharf gesehen, entfernte Objekte aber unscharf.

Je kurzsichtiger jemand ist, desto größer sind die Risiken

Was wie ein Fehler wirkt, ist eigentlich nur ein Beweis für die enorme Anpassungsfähigkeit des Hochleistungsorgans. „Eigentlich ist das ein ganz vernünftiger Prozess“, betont Pfeiffer. „Ähnlich sinnvoll wie die Bildung von Hornhaut an stark beanspruchten Körperteilen.“

Allerdings gibt es ein großes Aber: Augenkrankheiten wie Linsentrübung, das potenziell zu Erblindung führende Glaukom, die Netzhautablösung und die Makula-Degeneration seien bei Kurzsichtigen häufiger und entstünden wahrscheinlich auch früher. „Außerdem ist das Risiko für Unfälle erhöht.“ Auch hier gilt eine klare Dosis-Wirkung-Beziehung, wie der Mediziner erklärt: Je kurzsichtiger jemand ist, desto größer sind die Risiken.

Die Krux ist: Umkehren lässt sich Kurzsichtigkeit nicht. Brille oder Kontaktlinsen gleichen nur die bestehende Fehlsichtigkeit aus, beeinflussen aber nicht ihre weitere Entwicklung, wie Pfeiffer erklärt. Und es gebe auch keine leicht nutzbaren medikamentösen Wundermittel. Atropin-Tropfen – die in Asien großflächig eingesetzt werden – vermindern demnach die Kurzsichtigkeit zwar zeitweise, haben aber starke Nebenwirkungen und lassen Kinder im Hellen schlechter sehen und lesen. Ähnliche Probleme gebe es bei speziellen Brillengläsern.

Zwei Stunden Zeit im Freien

Eltern hätten also auch mit Blick auf die lebenslange Sehfähigkeit ihrer Kinder allen Grund dazu, ihren Nachwuchs von langen Smartphone-Zeiten abzuhalten, betont der Mainzer Experte. Am besten sollten sie ihn nach draußen schicken – denn ein ganz natürliches Wundermittel gegen Kurzsichtigkeit gibt es dann doch: möglichst viel Draußenzeit. Studien zeigten mehrfach, dass Kinder weniger kurzsichtig werden, wenn sie viel an der frischen Luft herumtollen.

Woran das genau liegt, sei nicht im Detail klar, sagt Pfeiffer. Helles Licht hemmt, wahrscheinlich über den Botenstoff Dopamin, das Augenwachstum, wie Analysen zeigten. Anteil habe vermutlich auch, dass draußen mehr Dinge in mehr als fünf Metern Abstand angeschaut werden – und nicht zuletzt die Bewegung an sich, die sich auch auf etliche andere Bereiche des Körpers positiv auswirkt. „Mindestens zwei Stunden Draußenzeit täglich halten die Entwicklung von Kurzsichtigkeit jedenfalls auf“, so Pfeiffer.

Kinder müssen an die frische Luft

Der Effekt erkläre mit, warum gerade Asien so stark von Myopie betroffen sei. Zwei Stunden draußen – darauf kämen viele Menschen etwa in Singapur höchstens in der Woche, weil fast das gesamte Alltags- und Freizeitleben in Gebäuden stattfinde. Hierzulande sei die Situation unter anderem dank des hohen Stellenwerts von Spielplätzen zumindest bei kleinen Kindern noch eine andere. Doch auch in dieser Altersgruppe steigen die Medienzeiten.

Den Autoren der Übersichtsarbeit zufolge könnte bis 2050 fast die Hälfte der Weltbevölkerung kurzsichtig sein. Der Anstieg gehe mit einem früheren Beginn, einem schnelleren Fortschreiten und einer stärkeren Myopie einher. Zudem sei mit einem Anstieg myopiebedingter, das Sehvermögen bedrohender Erkrankungen zu rechnen.

„Man sollte mehr auf das hören, was schon die Omas immer gesagt haben“, rät Pfeiffer: Kinder müssen an die frische Luft. „Damit sinkt dann auch gleich das Risiko für Übergewicht und daraus resultierende Erkrankungen, und das Kind hat mehr Sozialkontakte.“ Die Empfehlung, für ein lebenslang gutes Sehvermögen das Handy öfter wegzulegen und herauszugehen, gilt übrigens nicht nur für Kinder. Denn, so Pfeiffer: „Das Augenwachstum ist erst mit etwa 25 Jahren abgeschlossen.“

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke